Herbst (aw)

Die Liste meiner Ferienjobs hat eine gewisse Länge, ganz weit oben stehen die Jobs in der örtlichen Chipsfabrik. Da ich die 50 überschritten habe, waren die Jobs in der Zeit, als bei Chips noch eindeutig an Essen gedacht wurde.
Und weil es der einzige größere Arbeitgeber vor Ort war, habe ich im Laufe der Jahre viele Stationen der Chips- und Chipslettenfertigung durchlaufen. Hier soll es um den lukrativsten Teil gehen, denn der fand im Herbst statt.

Obwohl ich gerade gelernt habe, dass das Bundesland Bayern sich auch heute noch auf die bäuerliche Tradition beruft, die zur Folge habe, dass die Kinder bei der Ernte helfen müssten und dass darum das Bundesland immer das letzte Ferienfenster bekommt, während alle anderen sich mit den Zeiträumen abwechseln, muss es Jahre gegeben haben, in denen Niedersachsen, wenn schon nicht als letztes Bundesland, so doch spät dran war mit den Ferien.
Nur so war es möglich, dass in den Ferien bereits Kartoffelernte war. Denn mein Job war in dem Jahr an der Kartoffelannahme der Chipsfabrik. Dort hatte ich Tag für Tag ungeplante Zusatzboni.
An der Kartoffelannahme hatte Heinz Gummistiefel an und den Hut auf. Im Nacken saß ihm der Schalk, er war sehr witzig und konnte dennoch im rechten Moment ernst sein, nämlich immer dann, wenn er mitteilen musste, dass ein Vertragsbauer seine Kartoffeln nicht loswurde und dann die mitgebrachte Ernte nicht bezahlt bekam und wieder mitnehmen musste.
Heinz entschied dabei nicht nach Gutsherrenart, sondern nach Augenschein und Testergebnis.

Sein Augenschein entdeckte vor allem den berüchtigten Rattle (eine Viruskrankheit, die beim Aufschneiden der Kartoffel in Form von dunklen Ringen sichtbar wurde). Der Test betraf den Stärkegehalt, er wurde mit der Rohrpost verschickt und das Ergebnis ratterte genau mit dem Zeitabstand zurück, den der einer oder andere Bauer benötigte, um für Heinz und sich einen Schnaps und für mich eine Tafel Schokolade aus der Kantine zu holen (Heute undenkbar, damals nur so denkbar). Selbstredend hatten weder Schnaps noch Schokolade objektiv Einfluss auf den Stärkegehalt der abgelieferten Kartoffeln.
Subjektiv war damit natürlich nicht nur Höflichkeit, sondern auch Hoffnung verbunden.
Denn der Stärkegehalt war neben dem Rattle das Maß aller Dinge: Er musste hoch genug sein, damit die Kartoffeln zur Chipsproduktion geeignet waren.
Der Pegel von Heinz stieg von Stunde zu Stunde, mein Schokoladenstapel ebenso.
Dieser Platz damals im Herbst war darüber hinaus der unterhaltsamste aller Jobs, die ich in der Chipsfabrik hatte. Bei allen habe ich etwas gelernt:
Es ist schwierig, eine langweilige Tätigkeit eine Schicht lang durchzuhalten, unterfordert, in ständigem Lärm.
Es gibt arbeitsbedingte Gerüche, die eine bis nach Hause begleiten.
Ein Produktionsablauf ist immer etwas Komplexes. Es gibt Abläufe, die nur weiß, wer sie entwickelt hat oder wer ein Teil davon war. Punkten kann ich bei Vergleichen von Ferienjobs meistens damit, dass ich einmal mehrere Wochen lang eine von denen war, die Chipsletten umgedreht haben. Aber das ist eine andere Geschichte.
Aus den Sommerferien, in Niedersachsen, in den 1980er Jahren. (aw)