Die Reise nach Berlin (2/2)

„Wirf den Schlüssel einfach in den Briefkasten wenn Du gehst.“ hatte die Vermieterin herzlos gesagt. So herzlos wie die Welt nunmal gegenüber Dingen ist, die sie nicht direkt etwas angehen. Ich schnappte mir meine rot-weiße Sporttasche die ich so liebte, zog die Tür ins Schloss und verfuhr mit dem Wohnungsschlüssel wie geheißen. Die Erinnerung an die rot-weiße Sporttasche ist nach wie vor sehr präsent. Sie war mein Ein und Alles. Ob für den Einkauf, den Ausflug oder das Training. Als die Tasche vor ein paar Jahren altersbedingt auseinander fiel, war ich schon etwas geknickt. Bei der Ausreise damals, war nicht viel drin. Nur ein paar Wechselsachen. Zwei Flaschen Bier. Sachsenbräu Hell. Natürlich Zigaretten. So marschierte ich los. Zur zentralen Eisenbahnstation. Der Fahrplan sah die Abfahrt für abends gegen halb sieben vor. Am Bahnsteig traf ich meine zwei besten Freundinnen. Die einzigen Personen die ich zur Verabschiedung einbestellt hatte. Wir rauchten und warteten stumm auf den Moment, der unsere Lebenslinien ein für alle Mal in unterschiedliche Richtungen lenken sollte. In einem menschenleeren, schlecht beleuchteten, einstmals prunkvollen Kopfbahnhof. Riesige verrostete Stahlbögen überspannen die unbesetzten Gleise. Das heute übliche Sortiment an Imbissbuden nicht vorhanden. Kaffee ToGo genau wie Mobiltelefone wissenschaftliche Fiktion. Das Warten wurde von einer unterkühlten Ansage des Schaffners beendet: „Einsteigen bitte!“. Eine letzte Umarmung. Nun wurde es ernst. Diskussionen mit dem Bahnpersonal lohnten auch im Osten nicht und so schwang ich mich ins eiserne Ungetüm, das für die nächsten Stunden meine Heimat sein würde. Ich legte meine Tasche ab und ging zurück ans Fenster dessen oberes Drittel damals noch, gleich einer um neunzig Grad gedrehten Schiebetür, heruntergezogen werden konnte. Dies natürlich nur, wenn man über die nötige Kraft verfügte. Der Bahnsteig setzt sich in Bewegung. Ich winke, die Freundinnen winken auch. Ob man sich wieder sieht ist ungewiss. Gewöhnlich ließen die Behörden drei Jahre verstreichen bevor sie einer Wiedereinreise zustimmten. Zögerlich verließ ich das Fenster. Es war die letzte Verbindung zu einem nun bereits vergangenen Leben. Ich ließ mich auf meinen Platz fallen und schaute auf die vorbeiziehende Stadt. Der Zug nahm Fahrt auf, vorbei an den grauen Mietskasernen mit dem nach Westen zeigenden Antennenwald auf den Dächern. Etwas das mich immer verstört hatte. Niemand sah offiziell Westfernsehen, die Antennen mussten also einem anderen mysteriösen Zweck dienen. Nach ein paar Stunden in gemächlichem Reichsbahntempo erreichten wir den Halt am Grenzübergang. Die Dämmerung lag schon eine Weile zurück. Ein kühler Aprilabend. Der Zug kam quietschend zum Stehen. Während der Fahrt hatte ich mich kaum gerührt und war allein in meinem Abteil geblieben. Hundegebell machte die Spannung, die sich die letzten Minuten aufgebaut hatte, noch ein bisschen unerträglicher. Unheimliche Schatten huschten am Fenster vorbei. Mir wurde übel. Konnte das alles überhaupt gut gehen? Oder würden mich die Grenzer aus dem Zug eskortieren? Agentenfilmatmosphäre. Geräusche die nur von Militärstiefeln stammen konnten näherten sich. Soldaten erreichten meine geöffnete Abteiltür und verlangten schroff den Ausweis. Ein Schäferhund schnüffelte aufgeregt herum. Ich versuchte möglichst unbeteiligt zu wirken und übergab ihnen meine von der Staatssicherheit ausgestellten Dokumente. Das neben meinen Namen gestempelte „Staatenlos“ war sogar aus einiger Entfernung noch gut zu erkennen. Kommentarlos bekam ich das Papier zurück. Ohne mich weiter zu beachten entschwanden die Grenztruppen der DDR meinem Blick. Schade, dass ich damals keinen Pulsmesser trug, wie heute üblicherweise beim Laufen. Es wäre ein sehr gutes Verfahren gewesen um meinen Maximalpuls zu ermitteln. Nach einer halben Ewigkeit setzte sich der Zug mit einem kurzen Ruck schließlich wieder in Bewegung. Schon ein kleines bisschen erleichtert erhob ich mich, öffnete das zweite Bier, stellte mich ans offene Fenster im Gang, zündete eine Zigarette an und spähte in die kalte Nacht. Auf der Suche nach dem Grenzpfahl, der das Ende des Territoriums der DDR markierte. Hier müsste er doch irgendwo kommen, dachte ich. Die Wagen rollten sehr langsam. So als hätte sich die Unsicherheit der Fahrgäste auf sie übertragen. Nach weiteren endlosen Minuten im Schneckentempo kullerten wir schließlich über die Demarkationslinie. Nie wieder war ich so glücklich etwas in den Farben Deutschlands ohne Hammer, Zirkel, Ährenkranz zu sehen. Meine Welt war in Sekunden eine andere geworden. Die DDR nun plötzlich unerreichbar. Was für mich aber viel wichtiger war, ich unerreichbar für sie. Entronnen dem Land der Spitzel und Funktionäre. Ausgewichen dem Damoklesschwert NVA. Der Gedanke war für mich unerträglich gewesen. Ausgeliefert zu sein den Kleingeistern, die es für möglich hielten, Lebensinhalt in einem Militärapparat zu finden. „Fulda Hauptbahnhof!“ rief etwas später eine dem Anlass nicht gerechtwerdende, empathielose Lautsprecherstimme. Hier hieß es umzusteigen. Passenderweise setzte die Morgendämmerung ein. Die Sonne blinzelte über den Horizont. Verloren stand ich mit hochgezogenen Schultern auf dem verlassenen Bahnsteig und wartete auf den Anschluss nach Gießen. Es war ziemlich frisch. In der Ferne lag Nebel vor einem kleinen Waldstück. Unweit von mir stand eine kleine Familie am selben Gleis, die offenbar die gleiche Reise wie ich unternommen hatte. Ich schaute verstohlen zu ihnen hinüber. Sie waren aber genau wie ich ausgelastet mit der Verarbeitung des gerade Erlebten und hatten kein Interesse an Begegnung. Ich schätzte mich glücklich frei und ungebunden der Situation ausgesetzt zu sein. Die zusätzliche Last der Verantwortung für Andere musste erdrückend sein. Das Auffanglager Gießen empfing uns mit wohltuender Bürokratie. Ein bisschen Ordnung konnte im Moment nicht schaden. Wir waren alle aufgewühlt genug. Ein warmes Mahl und ein weiches Bett schenkten dem Tag ein versöhnliches Ende. Am nächsten Morgen packte ich schon wieder die Koffer. Ein neues Abenteuer wartete darauf bestanden zu werden. So wie ein Bonusspiel in einem Spiel, das man bereits spielt. Fliegen mit einer Passagiermaschine hieß der Hauptpunkt des Tagesprogramms. Die Frage nach meinem Wunschaufenthaltsort hatte ich mit Westberlin beantwortet um auch der Bundeswehr aus dem Weg zu gehen. Eine Fahrt per Transit war selbstverständlich nicht möglich, also spendierte mir die Bundesrepublik ein PanAm Ticket. Ich betrat das erste Mal in meinem Leben einen Flughafen. Gates, Terminals, Boarding, Unmengen von Menschen aus aller Herren Länder. Ich fühlte mich als wäre ich auf einem anderen Planeten. Der Flieger war fast leer, wie tags zuvor die Anlaufstelle für Übersiedler. Mein Platz lag in einer der vorderen Reihen und bot eine gute Sicht. Die Tür des Cockpits stand weit offen. Der Pilot unterhielt sich angeregt mit einer Person die neben ihm sitzen musste. Vermutlich dem Copiloten. Eine Stewardess ging lächelnd durch die Reihen und schaute nach dem Rechten. Es wirkte alles sehr familiär. Start. Die Triebwerke heulten auf. Ich wurde in meinen Sitz gedrückt. Mit dieser Beschleunigung hatte ich nicht gerechnet. Schon waren wir in der Luft und rasten steil in die Wolken. Die Tür zum Cockpit schlug auf und zu. Der Kapitän schien sich prächtig zu amüsieren. Er lachte herzlich mit dem für mich nach wie vor unsichtbaren Menschen. Ich mochte seine Mütze. Sie war ihm ein bisschen in den Nacken gerutscht. Vermutlich der Ursprung meiner späteren Marotte als U-Bahnfahrer ebenso eine solche zu tragen. Auf Reisehöhe angekommen bestellte ich umgehend einen Whisky um meine Nerven zu beruhigen und als er mir von der Flugbegleiterin überreicht wurde schnell noch einen zweiten. Dann setzte die Boeing aber auch schon wieder zur Landung an. Frankfurt – Berlin. Nur ein unbedeutender Hüpfer für PanAm, für mich der Sprung in ein neues Leben. Rabiates Aufsetzen und Umkehrschub jagten meinen Adrenalinspiegel nochmals in die Höhe. Es wäre doch wirklich tragisch auf den letzten Metern zu verunglücken schoss es mir durch den Kopf. Die Öffentlichen übernahmen schlussendlich meine Beförderung zum Brandenburger Tor. Davon hatte ich jahrelang geträumt. Genau wie die Sex Pistols in einem ihrer Videos wollte ich dort mit einer Dose Bier in der Hand an der Mauer entlangschlurfen. Nach dem Erklimmen einer der Aussichtsplattformen bot sich ein unvergesslicher Blick in den Osten Berlins. Ich steckte mir eine Zigarette an und bewunderte die verrückte Choreographie die der Bewegung der Grenztruppen zu Grunde liegen musste. (ts)

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