Lange Nacht der Elektronen

Ich war noch sehr jung. Neunzehn oder zwanzig. Ein Blick in die Akten würde Klarheit schaffen. Angestellt bei den Leipziger Verkehrsbetrieben als Straßenbahnfahrer. Genauer: Facharbeiter für Städtischen Nahverkehr. Diese, etwas längere Formulierung, lindert auf angenehme Weise meine Sehnsucht nach Präzision. Die Ausbildung hatte nur drei Monate gedauert. Ein bisschen Theorie, praktische Fahrübungen, ein paar Runden mit Lehrfahrer und schon rollte ich selbstständig mit der Elektrischen durch die Stadt. Einer der ersten Fahrdienste endete auch gleich mit einem Unfall. Zeitpunkt des Hergangs: ein Winternachmittag nach Sonnenuntergang. Ich fuhr, glücklicherweise recht langsam, es könnte die Linie vier gewesen sein, nichtsahnend durch eine düstere Allee, als plötzlich ein Trabant von links aus einer Seitenstraße geschossen kam. Er wollte wohl eigentlich rechts abbiegen, bekam aber die Kurve nicht und hielt direkt auf mich zu. Auch eine Vollbremsung verhinderte den Zusammenstoß nicht mehr. Ich lief hinaus um nach dem Fahrer zu sehen. Der saß sturzbetrunken hinter dem Lenkrad und lallte, er wisse er sei schuld. Getan hatte er sich offenbar nicht viel, obwohl das Auto ein Totalschaden war. Aus dem Kofferraum waren Farbeimer gefallen, deren Inhalt den Asphalt bunt anmalte. So etwas war allerdings die Ausnahme. Normalerweise hieß es, Pause in der Betriebskantine, Rauchen in der Wendeschleife. Die Tage plätscherten dahin. Widerwillig vergingen die Nächte an den Endstationen. Warten auf die Morgendämmerung. Hier soll jedoch die Rede von einem Ereignis sein, das noch Jahre später dazu taugt, auf Partys das Gespräch an mich zu reißen. Mit großen Augen werde ich oft angestaunt, offenbare ich das ehemalige Berufsbild. Was, Du warst Straßenbahnfahrer? Erzähl mal! Wie schon angeschnitten, es gibt etliche Vorkommnisse, die berichtenswert erscheinen. Ein besonderer Spätdienst gehört zweifelsfrei dazu. Ich war unterwegs auf der letzten Fahrt vor dem Einrücken in den Betriebsbahnhof als mir nichts, dir nichts beim Heruntertreten des Fahrpedals das übliche Aufjaulen der Elektromotoren ausblieb. Die Wagen rollten mitten im nirgendwo antriebslos aus. Es war nach Mitternacht. Fahrgäste waren Gott sei Dank keine an Bord. Nun gut, da stand ich also mit meiner Tram. Auf ein Wunder hoffend versuchte ich durch mal sanftes dann rabiates Bedienen des Pedals die Maschine zur Mitarbeit zu bewegen. Doch es blieb still. Die Straße war leer und lag im dämmrigen Licht der vereinzelt aufgestellten Laternen. Sterne funkelten freundlich vom Himmel. Nachdem alle Sicherungen zum dritten Mal überprüft waren, nahm ich via Funkgerät Verbindung mit der Zentrale auf. Wäre mir damals Latte Macchiato schon ein Begriff gewesen, ich hätte ihn vermisst. Zu der Zeit wurde allerdings nur Kaffee schwarz in der Betriebsküche ausgeschenkt. Optional mit Sahne aus diesen schrecklichen kleinen Plastiktöpfchen. Einen Milchkaffee zu bestellen wäre auf ähnlich verständnislos blickende Gesichter gestoßen, wie der Wunsch nach glutenfreien Backwaren. Überhaupt, die Kantine. In meiner Erinnerung ein schmuckloses, kneipengroßes Foyer mit einem abgeteilten, verglasten Raum in dem zwei ältere Frauen in Schürze hinter der Theke Fleischsalatbrötchen schmieren. An den Tischen rauchende Bahnerinnen und Bahner. Eine aufsehenerregende Vorstellung, die ich in besagtem Etablissement gab, gilt es noch schnell zu schildern, bevor ich zurück zu mir, der Nacht und dem defekten Schienenfahrzeug schalte. Es gab mal eine Pause, in der wollte ich eine wohlverdiente Tasse Kaffee mit angeschlossener Zigarette genießen und machte mich auf den Weg in den Speisesaal, der durch eine Schwingtür vom zu ihm führenden Flur abgetrennt war. Ich nahm mir vor, wie Superman durch die sich öffnende Kombüsenpforte in die Kantine zu fliegen. Ein kurzer Anlauf, ein formvollendeter Sprung, gefolgt von unsanftem Halt meiner Stirn am sogenannten Türsturz, will heißen, der oberen Begrenzung des Durchgangs. Ich hatte nicht bedacht, dass ein Abheben meine relative Höhe wesentlich ändert. Eine Augenbraue blutete erheblich. Ich war auf dem Rücken gelandet und mir brummte der Schädel. Drei Stiche im Krankenhaus schickten mich auf den Weg der Genesung. Nun aber zurück zu mir und der liegengebliebenen Glocke, wie wir sie damals nannten. Nach etwa einer halben Stunde traf der Technikwagen samt Besatzung ein. Man müsse nun erstmal den Stromabnehmer von der Oberleitung entfernen beschied ein, heute würde man sagen, alter, weißer Mann. Er betrat die Fahrerkabine, schnappte sich das Seil, das zum Herabziehen des Stromabnehmers diente und zog es kräftig nach unten. Abrupter Übergang von Belanglosigkeit zu Entsetzen. Es gab einen lauten Knall, ähnlich dem der heutzutage an Silvester benutzten Böller und schlagartig standen alle in gleißend hellem Tageslicht. Stromabnehmer und Oberleitung hielten durch einen laut knisternden Lichtbogen wie man ihn aus Physikexperimenten kennt miteinander Verbindung. Der Werkstattmann wusste nicht wie im geschah und klammerte sich panisch an das Seil. Einfach loszulassen schien ihm keine Option zu sein. Nach ungefähr zehn Sekunden riss die Oberleitung mit einem weiteren, noch lauteren Knall, was zu sofortiger, absoluter Dunkelheit führte. Eins der Enden zuckte funkensprühend wenige Meter von uns entfernt auf dem Boden entlang. Schließlich versiegte auch dieses letzte Aufbäumen der elektrischen Mächte. Alle standen unbeweglich starr vor Schreck. Dieser Moment hatte auch etwas Erhabenes. Wir waren unmittelbare Zeugen der unbändigen Kraft, die wir sorglos in unseren Erfindungen entfesseln. Schade, dass es von dieser Szene kein Foto gibt. Der Kollege, der Auslöser der Geschehnisse gewesen war, wirkte sehr verwirrt und durchgeschüttelt als er nach Abschluss seines heroischen Einsatzes aus der Straßenbahn kam, uns anblickte und fragte: „Bin ich blass?“. (ts)