Stolz und Vorurteil

Stolz und Vorurteil. Zwei in Verruf geratene Begriffe. Es ist ihnen ergangen wie den weißen Plastikgartenstühlen und dem Niesen in der Öffentlichkeit. Den Einbauküchen und Schrankwänden. Argwöhnisch werden sie beäugt von den tugendhaften und potenten Menschen mit Geschmack. Ich möchte für die beiden in Ungnade gefallenen Vokabeln, genauer für das, wofür sie stehen, aber eine Lanze brechen. Eine sehr brachiale Redewendung, zugegeben. Aber keine Sorge, ich werde mich jetzt nicht auf’s Ross schwingen und mit den Kritikern von Selbstliebe und Eigenschaftenraten Ritterspiele veranstalten. Das war schon damals albern und wäre es auch heute. Der Stolz an sich, sofern mit gutem Grund empfunden, ist eine feine Sache. Blicke ich in die letzte Woche, sage ich, ich war ein ganz kleines bisschen stolz die Bedienung an der Backtheke zum Lächeln gebracht zu haben. Sie zählte laut Geld in die Kasse und bat mich um ein wenig Geduld. Merkwürdigerweise duzt sie mich. „Hast Du einen Moment?“ Ich nickte und rechnete im Kopf mit. „Einhundertzwanzig.“ sagte sie am Schluss, während sie den letzten Schein beruhigt in die Kasse gleiten ließ. Ich lobte, klingt richtig! Beide Lachen. Ein Moment des Glücks. Zu oft behandele ich Mitmenschen wie Plankton. Das muss nicht sein. Ich schreite nun zum allseits verabscheuten Vorurteil. Sagt was ihr wollt, das einzig legitime Urteil ist ein Vorurteil. Welch anderes Verdikt könnte ich mir erlauben? Nur das Vorurteil in meinem Repertoire der angebrachten Bewertungen, ist frei von Untiefen und Klippen. Ich darf Influencer für gierig und Edelleute für dumm halten. Oder aber auch die Frau mit den strubbeligen Haaren, die mir gestern auf dem Trottoir entgegenkam, für nett. Den Professor für ungemein kompetent. Schubladen sind ein erprobtes Aufbewahrungssystem. Ich möchte die Entität sehen, die vollkommen unbefangen Allem und Allen gegenübertritt. Ein Ureinwohner, herbeigesegelt von einem fernen Atoll, der das erste mal seinen Fuß auf’s Festland setzt, käme da in Frage. Betrachtet man das Vorurteil gründlich, so ergibt sich der Gedanke, es müsste eigentlich als Vorläufer der heutzutage bejubelten künstlichen Intelligenz gelten. Überdimensionierte Technik versucht vorherzusagen was mir gefallen könnte. Reklame als Motor des Untergangs. Das wenig vorurteilsfreie Sprichwort: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“ ist ja auch nichts weiter als eine grobe Vorhersage den Lebensweg eines Abkömmlings betreffend. Es existieren Unmengen an Redewendungen, die eine Aussage zur Charakteristik von Menschen und Dingen wagen. Statistik erwachsen aus den Erfahrungen von Generationen. Viel schöner als eine schnöde Maschine, die angeblich Vergleichbares bewerkstelligt. Ich vertraue eher meinen Vorfahren als einem elektrischen Rechenschieber. Gevatter Stolz, ich geb es zu, ist nun leider ein wenig zu kurz gekommen. Aber das geschieht ihm Recht. Lassen wir ihm lieber nicht mehr Raum als nötig. (ts)