Ein Wochenende im Landhaus

Schaut, da sitzen sie am Bahnsteig, auf einer dieser überraschend bequemen Bänke aus metallenen Gitterstreben, die erfolgreich den Eindruck von Sauberkeit vortäuschen. Die drei, seit Kurzem war die Grenze von Bekanntschaft zu Freundschaft überschritten, warten auf ihre schienengebundene Mitfahrgelegenheit. Charlie trägt ein rotes Sommerkleid und hat den Schlüssel zum Landhaus einer befreundeten Familie im Gepäck. Gelegenheit für einen Kurzurlaub mit ihren beiden Nachbarn. Lohengrin, in Blue Jeans plus Hoodie und Annegret, die in einem Jumpsuit steckte, hatten schnell zugesagt. Rasant, wie erhofft, war das Ereignis nähergerückt und nun schauten sie nach links und rechts, das Gefährt aus Eisen herbeisehnend. Die Abfahrt erfolgt pünktlich. Annegret hatte den Lauf des Sekundenzeigers an der Bahnhofsuhr verfolgt. Sie mochte die stoische Art seines Dahingleitens. Eine kurze halbe Stunde nur betrug die Fahrtzeit. Jetzt standen sie mit ihren Koffern am verlassenen Bahnsteig im Nirgendwo und versuchten die architektonischen Gegebenheiten zu erfassen. Die Sonne schien. Ein paar Wolken begrüßten sie. „Wo geht’s lang?“ fragte Lohengrin. Ein langgezogener Waldweg der vom Bahnhof wegführte deutete eine Antwort an. Sie marschierten los. Wieder eine gute halbe Stunde hieß es, wohlauf voran auf Schusters Rappen. Ein paar angenehm geschwungene Kurven galt es zu meistern und dann erschien auch schon das Landhaus, noch leicht verdeckt von Birken, die schützend Position bezogen hatten. Landhäuschen wäre die bessere Beschreibung gewesen dachte sich Charlie. Mit einem Schlüssel, der der Requisite zu einem Märchenfilm entsprungen sein musste, schloss sie die wuchtige Tür auf und trat ein. Ein geräumiges, rustikal eingerichtetes Zimmer mit Kamin empfing die Ankömmlinge. Etwas abgetrennt lag zur Linken eine kleine Küche. Eine Wendeltreppe führte nach oben zu den Gästezimmern wie sie gleich erfahren würden. Alle bejubelten die Konstruktion, die den Wechsel zwischen den Etagen möglich machte. Nun hieß es aber erstmal in Ruhe ankommen. Die drei verabschiedeten sich in die vereinbarten Räumlichkeiten. In rund einer Stunde wollte man vorm Kamin konkrete Pläne fürs Wochenende schmieden. Ein kleines Weilchen vor Ablauf dieses Zeitraums landete Charlie als erste im Salon. Sie schnüffelte ein bisschen am Bücherregal entlang und zog hier und da ein Buch heraus, das ihr Interesse weckte. Sie erinnerte sich an diese Szene in einem der Indiana Jones Filme, als Indy und Jones Senior am Tag der Bücherverbrennung der Nazis über den Bebelplatz fahren. Jones Senior hatte das Geschehen mit den Worten kommentiert: „Diese Narren! Die Bücher, die sie verbrennen, sollten sie lieber lesen!“ Ein Filmzitat, das sie wohl den Rest ihres Lebens nicht vergessen würde. Die Eigentümer des Hauses waren offenbar den Klassikern verfallen, dachte sie weiter. Es gab kein Buch jüngeren Datums. Als wäre die Zeit irgendwann stehengeblieben. Annegret kam vorsichtig die Treppe hinab. Sie vertraute der etwas wackelig anmutenden Konstruktion noch nicht so recht. Die beiden ließen sich in ein paar Sessel an der Feuerstelle fallen und hielten sich an Kaffeetassen fest. Schöne Idee mit uns hier ins Landhaus zu fahren, lobte Annegret. Wollen wir mal die Umgebung ein bisschen auskundschaften so lange Lohengrin noch nicht fertig ist? Sie hatten kurz vorher nach Lohengrin gerufen. „Lohengrin?“ „Wir wollen ein bisschen raus, willst Du mit?“ Lohengrin hatte durch die Treppenstufen gelinst und mit dem Kopf geschüttelt. Er wolle erstmal ein schönes, heißes Bad nehmen. Also stapften Charlie und Annegret ohne ihn los. Ein Trampelpfad führte hinab zu einem kleinen und, so empfanden es die Frauen, verwunschenen See. Das wollten sich die beiden mal genauer ansehen. Und schon saßen sie auf einem, was Stabilität betrifft, wenig Vertrauen erweckenden Holzsteg und ließen die Beine baumeln. Das Wasser war klar und man sah ein paar kleine Fische. „Hast Du schonmal geangelt?“ fragte Charlie. Annegret antwortete: „Ja, als junges Mädchen mit meiner Mädchenbande. Wir versuchten es an einem wilden Bach mit selbstgebastelter Angel. Ein langer Ast, mit Taschenmesser seiner Zweige beraubt und einer Segelschnur mit Angelhaken dran. Natürlich haben wir nie etwas gefangen!“ Beide lachen. Der Weg zurück zum Landhaus gestaltet sich schwieriger als gedacht, denn sie beschließen eine abweichende Route zu nehmen. Es macht den Eindruck, als würde der Wald versuchen, sie an der Rückkehr zu hindern. Verführerische Walderdbeeren, erspäht beim Blick zurück, verzögern durch Bewegung in die falsche Richtung. Die Rehschule auf einem Hügel in der Ferne dem man einfach nicht näher zu kommen scheint. Ein paarmal stehen sie ratlos an Weggabelungen. Doch sie erreichen trotz alledem ihr Häuschen, wenn auch mit Zeitverzug. Albern rennen sie die letzten Meter um die Wette. „Wo wart ihr denn so lange?“ fragt Lohengrin tadelnd nachdem Charlie und Annegret durch die Tür treten. „Och, wir haben uns nur ein bisschen verlaufen.“ erklärt Charlie während sie in Annegrets Richtung grinst. Lohengrin lässt es dabei bewenden, denn er hat Interessantes zu berichten. „Der Kühlschrank ist voll mit allen erdenklichen Delikatessen! Ich glaube wir müssen uns wirklich bei den Gastgebern bedanken!“ Charlie macht den Kühlschrank auf und ist begeistert. „Daraus zaubere ich heute Abend etwas furchtbar Leckeres!“. Annegret und Lohengrin verziehen sich an den Kamin, beide ein Glas Rotwein in der Hand. Lohengrin mit Eiswürfeln. „Eiswürfel? Im Rotwein?“ wird er angestaunt. Selbstverständlich, es gibt nichts Schrecklicheres als zimmerwarmen Rotwein! Das weiß doch jedes Kind, lacht der Weinliebhaber ein bisschen gekünstelt. Das Abendessen wird ein voller Erfolg. Charlies experimentelle Seite dehnt sich glücklicherweise nicht auf ihre Kochkünste aus. Es werden noch ein paar Gläschen getrunken, während man über dieses und jenes debattiert. Aber es geht nicht lang, noch vor Mitternacht ziehen sich alle in ihre Gemächer zurück. Am nächsten Morgen werden Charlie und Annegret von Lohengrin geweckt, der quer durchs Haus ruft: „Leute! Kommt mal runter. Etwas Unheimliches ist passiert!“ Verschlafen tappsen die Damen die Treppen hinab in den Wohnbereich. „Hier, schaut mal, der Kühlschrank ist wieder voll wie bei unserer Ankunft gestern!“. Ungläubig begutachten die Frauen den Inhalt der Frostmaschine. Es wirkt alles ein bisschen wie Hexerei. Auch die leeren Weinflaschen sind verschwunden, die Küche sieht unbenutzt aus, obwohl vor dem Schlafengehen, keiner mehr aufgeräumt hatte. Der Impuls dafür war bei allen ausgeblieben. Charlie meint, es müsse wohl einen guten Geist geben, den sie einfach nicht bemerkt hätten, eine andere Erklärung gäbe es nicht. Trotzdem ist allen ein bisschen mulmig bei dem Gedanken, eine fremde Person würde durchs Haus schleichen während sie schliefen. Die Tür wird also an diesem Abend verbarrikadiert. Und doch, am nächsten Tag dasselbe Spiel. Jetzt steht allen die Panik ins Gesicht geschrieben. „Ich kann hier auf keinen Fall nochmal übernachten!“ sagt Annegret. Eine kurze Diskussion folgt, an die sich der entstandene Konsens anschließt, noch heute abzureisen. Draußen setzt Regen ein, so als wollte sie eine unbekannte Macht dazu bewegen, ihre Pläne nochmals zu überdenken. Doch nein, es ist alles zu gespenstisch. Hinauf in die Zimmer, Koffer packen. Mehr als eine viertel Stunde würde das nicht in Anspruch nehmen lautet die Prognose. Lohengrin ist als erster fertig. Er geht nach unten, wirft sich auf das Sofa und lauscht nach oben. Als nach fünfzehn Minuten von Charlie und Annegret immernoch nichts zu sehen ist, ruft er nach ihnen. Keine Antwort. Er stürmt die Treppe nach oben. Die Nachbarinnen sind nicht in ihren Zimmern. Und ihre Räume sehen auch nicht so aus, als hätten Mittdreißigerinnen zwei Nächte in ihnen gehaust. Eher wie frisch gereinigte Hotelzimmer, bereit für die nächsten Gäste. Adrenalin schießt in seine Adern. Er rast die Treppe hinunter. Da, die Tür zum Keller steht offen. Ein diffuses Licht ist erkennbar. „Charlie? Annegreth?“ Lohengrin geht vorsichtig die Stufen hinab. Der Keller ändert allmählich seinen Charakter. Er gleicht nun eher einer Grotte. Hier mussten sie doch irgendwo sein. Wo denn auch sonst? Der sanfte Schein wechselt seine Farbe von orange nach smaragdgrün, dann nach azurblau. Lohengrin nimmt all seinen Mut zusammen und schreitet um eine Ecke, von der er nicht wissen kann, was sich hinter ihr verbirgt. Der Anblick, der sich ihm nun bietet, raubt ihm den Atem. Ein leuchtender Ring wabert zehn Meter von ihm entfernt. Struktur und Begrenzung sind nicht erkennbar. Ein sanftes Brummen, die Lautstärke leicht schwankend, ist zu vernehmen. Unwiderstehlich zieht es ihn an. Lohengrin nähert sich dem Phänomen immer weiter. Er zögert. Was soll er tun? Wieder hoch in die verlassenen Etagen? Nein. Er macht einen letzten Schritt und entschwindet dem Diesseits durch eine unsichtbare Barriere. Zurück bleibt ein leerer Raum, duftend nach Gewitterluft, die kürzlich von Blitzen durchschlagen wurde. Charlie und Annegret ergeht es nacheinander dann ebenso. Beängstigend allein im fremden Haus. Keine schöne Situation. Die angelehnte Kellertür fällt auch ihnen auf. Auch sie werden magisch ins Portal gesogen. Das Häuschen steht nun leer wie bei der Ankunft der drei Menschen. Am nächsten Morgen ist auch das Landhaus verschwunden. Nichts deutet mehr darauf hin, dass hier mal ein solches stand. Nur eine bunte Blumenwiese erstreckt sich zwischen den Bäumen und einem Pfad, der hier unvermittelt endet. Aber nicht für lange. Nachdem unbemerkt etwa ein Jahrzehnt verstrich, erinnert nichts mehr an seine einstige Existenz. Bald fehlt auch von jenen jede Spur, die diesen Weg dereinst beschritten. Die Städte leeren sich und verfallen. Flora und Fauna entgleitet dem Planeten, der vormals Erde hieß. Nach kurzem Intermezzo als Heimat einer einzigartigen organischen Welt, nun wieder nur ein lebloser Gesteinsbrocken, ungerührt seinen Stern umkreisend. Doch auch diese physikalische Meisterleistung bleibt ungewürdigt. Allein auf seiner Umlaufbahn, nimmt keine Menschenseele von ihm Notiz. Lohengrin, Charlie und Annegret materialisieren unterdessen an einem fremden Ort, weit weg, in den Magellanschen Wolken. Der Übergang schloss sich stets hinter ihnen. Nun stehen sie nah beieinander am Rande eines wunderschönen Tals und versuchen den Verstand nicht zu verlieren. Man könnte argumentieren, sie seien jetzt im Himmel. Oder war alles doch nur ein Hirngespinst gewesen? Ein Traum? Unmöglich das genau zu sagen. (ts)