Kopfhören

Bei einer der Gelegenheiten bei denen man überlegt, wie lange waren wir denn jetzt eigentlich wirklich zusammen, zieht man Schlafen, Arbeiten und an Anderes denken ab, fragte ich mich, wieviel Zeit habe ich wohl unter Kopfhörern verbracht? Kopfhörer, kein besonders präzises Wort. Nach dieser Logik müsste eine Brille Kopfseher genannt werden. Nun ja, wann aber habe ich eigentlich das erste Mal einen Kopfhörer angezogen? Brillen zieht man schliesslich auch in einigen Biotopen Deutschlands an! Ich muss ungefähr achtzehn gewesen sein. Da erhielt ich einen Walkman. Aus heutiger, audiophiler Sicht, wäre das für mich vermutlich klangtechnisch eine Zumutung gewesen. Billiges Plastikgehäuse, vom Batteriefach fehlte der Deckel, produzierte gerne Bandsalat – ein vom Aussterben bedrohtes Wort. Er war aber mein größter Schatz. Sobald ich auf die Straße trat, wurde Musik gehört. Es war wichtig die schnöde Welt auszublenden. Kassetten wurden überspielt um B 52’s [1] und den Beastie Boys [2] die Gestaltung der akustischen Welt zu überlassen. Dann kam eine Zeit in der ich etwas verschwenderischer wurde und zu Hause über eine wohlklingende Musikanlage verfügte. Die wollte natürlich in Betrieb genommen werden, sodaß das Bedürfnis nach Beschallung gestillt war. Erst als dann die eigenen Kinder das Leben durcheinander wirbelten, wurde wieder hauptsächlich außer Haus Musik gehört. Nun natürlich mit High-End Headphones in riesiger Ausführung – sogenannte Around-Ear Kopfhörer. Man hätte mich auch als Flughafenmitarbeiter einordnen können, der Flieger mit roten Leuchtstäben die Richtung weist. Moment, jetzt begreife ich erst, warum meine Umgebung damals immer ängstlich den Himmel absuchte. Heutzutage kopfhöre ich beim Einkaufen oder wenn ich mit den Öffentlichen irgendwohin fahre. Niemals beim Laufen! Das kam mir noch nie in den Sinn. Das können nur Leute, die Musik nicht so intensiv erleben wie ich. Ich könnte nicht schneller oder langsamer laufen als der Takt es diktiert. Jetzt gibt es vermutlich Leute die sagen: „Hey, Du kannst auch Podcasts hören!“ – Hallo (aw)! – aber, aber, ich würde mit großer Wahrscheinlichkeit gedankenverloren gegen einen Baum rennen während Interessantes mein Gehirn beansprucht. Außerdem bin ich beim Laufen damit beschäftigt auf meinen Körper zu lauschen. Piekst da die Wade? Zieht’s im Schienbein? Musik die aus Kopfhörern strömt, träfe mich emotional viel zu direkt. Mein Laufstil würde sich bei jedem Track verändern. Traurig trabend bei sentimentalen Stücken [3]. Wütend sprintend bei fetzigem Punk [4]. Ich habe auch mal versucht beim U-Bahn fahren (als Fahrer wohlgemerkt – das ist eine andere Geschichte) mit Kopfhörern Musik zu konsumieren. Hat auch nicht funktioniert. Zu schnell wähnt sich der Zugfahrer in einem Musikvideo, rauscht er mit Acid-House auf den Ohren durch die Tunnel. Es besteht die reale Gefahr, dass das Halten in den Stationen als lästig empfunden wird. Wieviel Zeit war es nun also, die unter Hörern verstrich? Legt man eine Stunde pro Tag zu Grunde wären es fünfzehn Tage im Jahr. Mit meinem Alter multipliziert erhält man eine Zahl, bei der man, wie immer bei solchen albernen Rechnungen, ungläubig mit dem Kopfhörer schüttelt. (ts)

[1] https://www.youtube.com/watch?v=2n_Tg8iHwZ8

[2] https://www.youtube.com/watch?v=oB0NM6reiRE

[3] https://www.youtube.com/watch?v=3e6D4mqpx9s

[4] https://www.youtube.com/watch?v=227m9lw5CcI