Zwo Null Zwo Vier

Das Jahr zwanzigvierundzwanzig ist vorbei. Es war kein besonders Schönes. Die Bauern sind mit ihren Mistgabeln in die Scheunen zurückgekehrt, die hoffentlich bemützten Lokführer haben wieder am Fahrerpult Platz genommen. Trotz des Aufstands lag reiche Ernte auf den Wühltischen der Wochenendmärkte. Es wurden viele Meilen im Eiltempo auf pflegebedürftigen Gleisen berollt. Im Herbst dann hielten es Teile der Bevölkerung, die nicht dazu neigen ihre Gedankenwelt ab und an zu hinterfragen, für sinnvoll, ausgemachte Trottel in wichtige Ämter zu heben. Wie hieß es noch bei Forrest Gump? Dumm ist der, der Dummes tut? Ein anderes treffliches Zitat lautet, die Intelligenten suchen nach Lösungen, Schwachköpfe nach Schuldigen. Wunderschön. Was geschah zudem? Olympische Spiele in Paris. An und für sich eine gute Sache. Wäre ich allerdings der Chef des IOC, gäbe es eine klitzekleine Anpassung. Zuschauer dürften Disziplinen nur verfolgen, sofern diese grundsätzlich beherrscht werden. Es ist nicht hinzunehmen, dass durch Wasser pflügende Menschen von Nichtschwimmern betrachtet werden und Hochspringer von E-Scooteristas. Wie sollte sich eine Kaffeetante einer Sprinterin nähern? Sicher nicht via Mattscheibe! Ganz am Anfang waren die Wettbewerbe übrigens noch ganz nahbar. Der Sieger über einhundert Meter Freistil schwamm 1896 im Bereich der Bestzeit meiner Jugend. Etwas über eine Minute. Allerdings vermutlich durchs aufgewühlte griechische Meer in einem dieser heute sehr lustig anzuschauenden Ganzkörperbadeanzüge und mit Hut! Am Strand jubeln ein paar sonnenbeschirmte Fans und schwenken die unterschiedlichsten Nationalflaggen. Heute erfordert es ein dem Sport geweihtes Leben in Abstinenz und Askese, um von einem Treppchen winken zu dürfen. Zurück ins verflossene Jahr. Zu allem Überdruss gab es dann auch noch die Fußballeuropameisterschaft. Eine Sportart mit, ich gebe es ja zu, gewissem Unterhaltungswert. Die Aufmerksamkeit die sie erhält, steht jedoch in keinem Verhältnis zu ihrer Relevanz. Redebeiträge der Protagonisten erscheinen merkwürdig überflüssig. Übertragen auf andere Berufe offenbaren sie ihre Absurdität. Eine vergleichbar wichtige Einzelhändlerin die zum Feierabend ein Mikrofon vor die Nase gehalten bekäme, müsste ihren Arbeitstag folglich so analysieren: „Es fing heute Morgen ganz gut an, dann wurde es aber ziemlich voll, da müssen wir dann das nächste Mal besser reagieren“. Reporter: „Vielen Dank für die Einschätzung Sonja, zurück zu Dir ins Studio Ingo!“. Überhaupt, die Relevanz. Um in Zeitungen etwas zu finden, das ich für bedeutsam halte, muss ich mich ins Archiv des Deutschen Historischen Museums begeben und die „Neue Spezial“ heraussuchen. Dort fände ich Beiträge wie: „Stöpsel im Ozean entdeckt! Am Mittwoch wird er von amerikanischen Wissenschaftlern gezogen!“. Doch dazu kommt es nicht mehr, denn das Jahr ist schon vorbei. Waldbrände wurden gelöscht und Keller leergepumpt. Es wurde gefeiert und getrauert. Geliebt und gehasst. Geschimpft und geschossen. Häufig frage ich mich, ob die Wüteriche dieser Welt auch sanfte Seiten haben. Ich hoffe ja und fürchte nein. Meine Frage an die KI, ob man auch einen Tag vor und einen Tag nach seinem Geburtstag immer Recht bekommen sollte wurde mit – das Geburtsdatum allein hat keine Auswirkungen auf die Richtigkeit von Aussagen und Meinungen – beantwortet. Au contraire! Ebenso abgehängt antwortete sie auf eine Frage hinsichtlich des unterschiedlichen Reisebedarfs Marco Polos und mich betreffend bezugnehmend auf den Umstand, dass sein Todestag auf meinen Geburtstag fällt. Die KI sah keinen Zusammenhang. Ich schon. Das dem Universum zur Verfügung stehende Kontingent an Reiselust war am 8. Januar einfach aufgebraucht. Für mich blieb nichts mehr übrig, und so scheue ich die Fremde. Hier noch ein sonniger Moment für mich aus anno zwo null zwo vier – mit einem Stück Erdbeertorte und einer Tasse Milchkaffee auf dem Sofa sitzen. (ts)