Poesie, Abwesenheit und Einfühlungsvermögen

Die Bedienung gestern im Restaurant fiel durch eine unverhofft poetische Aussage auf. Sie wollte vor Aufnahme der Bestellungen erst einmal allen klarmachen, dass sie kein Deutsch spricht. Dies gelang ihr hervorragend, in dem sie verkündete: „Kein Deutschland.“ Das kann man einfach nicht besser machen.

Und neulich im Miederwarengeschäft. Das Betriebskonzept des Ladens sah auch noch andere Artikel vor, zugegeben. Ich gehe mit einem Boxershortsdoppelpack zum Bezahlen. Die Frau an der Kasse fragt mich auf die Ware zeigend, ob ich mich damit auskennen würde. Etwas verblüfft antworte ich: „Ob ich mich mit Unterwäsche auskenne? Ja, natürlich!“ Die Kassiererin lacht. Sie wolle nur auf den Schnitt aufmerksam machen, der sei ein wenig labbrig. Das fand ich nicht weniger rätselhaft, ließ es aber dabei bewenden. Ich beglich die Rechnung und nahm meine Güter in Empfang. Die Fachverkäuferin verabschiedete mich freundlich und wünschte mir obendrein einen schönen Feierabend, obwohl es erst Mittag war. Ein weiteres Mal perplex, drehte ich mich nochmal um und fragte: „Oh, hab‘ ich schon Feierabend?“. Alle, auch die Umstehenden, lachen. Die Dame hatte kurz vorher mit einer Kollegin telefoniert, weswegen ich sogar unnötigerweise warten musste. Sie war offenbar gedanklich noch beim Telefonat. Diese Unaufmerksamkeit führte zu einem heiteren Einkauf. Vermutlich keine schlechte Idee ab und zu ein wenig abwesend zu sein.

Letzte Woche auf dem Ring. Zugverkehr unregelmäßig. Gegenstände im Gleis. Angerollt kommt dann natürlich eine brechend volle S-Bahn. Es wird eng. Die meisten Fahrgäste starren auf die Bildschirme ihrer Mobilfunkgeräte, um sich die Illusion einer Privatsphäre zu erzeugen. Nur eine junge Frau spricht sehr laut mit ihrem Handy. „Digger, mir war heute Morgen voll schlecht Alter und meinen Freund hat das Null interessiert.“ In diesem Stil geht es ohne Punkt und Komma weiter. Die Bahn muss an einem roten Signal ein paar Momente zu viel warten. Es ist so ruhig, nun ist sogar die Stimme des Gesprächspartners zu vernehmen. Da platzt einem Fahrgast die Hutschnur und er ruft quer durch den Wagon: „Mann! Ditt interessiert keene Sau, Digger!“. Ein komplettes Abteil bricht in erlösendes Gelächter aus. Ich schmunzele auch ein bisschen. Sie: „Was ist Dein Problem Digger? Ich telefoniere!“. Die rücksichtslose Reisende beschwert sich weiter bei der Person am anderen Ende der Leitung über ihren empathielosen Freund. Irgendwie ist die Ausgelachte aber die Einzige, die nicht versucht sich unsichtbar zu machen. Das wirkt wiederum auf eine merkwürdige Weise sympathisch, denke ich in mich hinein. An der nächsten Station steige ich aus.

(ts)