Wer weiß…

Jeder kennt Schrödingers Experiment mit seiner Katze. Eine diesbezüglich bestehende Wissenslücke, ließe sich kurzerhand durch den Besuch des Internets befüllen. Ich war schon immer fasziniert von Gedankenkapriolen und versuche sie in mein Leben zu integrieren. „Integrieren“ – auch so ein Wort mit für mich besonderer Bedeutung. Der Fahrmeister, der mich vor Jahrzehnten zum Zugfahrer ausgebildet hat, verwechselte es häufig mit „intregieren“. Einmal bekam ich im Unterricht deswegen einen so heftigen Lachanfall, ich musste den Raum verlassen. Das Wissen um diesen Sachverhalt wurde dem Kurzzeitgedächtnis der Leserschaft hiermit hinzugefügt. Nun möchte ich die Aufmerksamkeit aber wieder auf Schrödingers Katze lenken. Das von ihm veranschaulichte Problem ist von so fundamentaler Bedeutung, es müssen Parallelen in der Makrowelt zu finden sein. Und tatsächlich, es gibt sie, die nebeneinander verlaufenden Möglichkeitsstränge. Betrachte ich etwas mit ausreichender Intensität, verliert es seine Mystik. Und oft leben die Dinge zu einem guten Teil von eben dieser. Nehmen wir Liebesbeziehungen. Harmonisch tänzeln wir Hand in Hand am Strand entlang. Tauschen verträumte Blicke und sind glücklich. Doch ach, kaum öffnen wir die Kiste und zählen die Sommersprossen, ist der Reiz verflogen. Hätten wir doch lieber nicht in den Badezimmerschrank oder die Plattensammlung geschaut. Hinzu kommen die unzähligen anderen Gelegenheiten bei denen wir Farbe bekennen müssen, oder um bei Schrödinger zu bleiben, der Umwelt einen Blick in die Kiste mit der Katze gewähren. Lebt sie, ist sie tot? Wann sage ich den Freunden, dass eine neue Liebschaft mein Leben bereichert? Danach gibt es ja kein zurück mehr. Das Geheimnisvolle ist dahin. Gerade hätte ich die Bettgeschichte noch schassen können. Keinem wäre der Unterschied aufgefallen. Ganz ähnlich verhält es sich mit Ergebnissen der eigenen Kreativität. So lange ich niemandem meine Komposition vorspiele, oder die Biographie ans Herz lege, bin ich sicher. Was die Welt betrifft, ist all das unbekannt und somit unerreichbar für Feindseligkeiten. Doch auch Lobeshymnen, und das ist vielleicht viel schlimmer, können den Burggraben der Unkenntnis nicht überwinden. Wie Recht Erwin Schrödinger mit seinen Einlassungen zur ungeahnten Fernwirkung doch hatte. Mein Großonkel hieß auch Erwin. Das einzige Bild, das ich von ihm im Kopf habe ist, wie er mit dem Fahrrad an mir vorbeifährt und winkt. An beiden Seiten des Lenkers hängen diese großen Aluminiummilchkübel. Im Hintergrund unbestellte Felder. Ich hocke auf der Wiese und pflücke Gänseblümchen. Eine schöne Erinnerung. Hätte sich der Großonkel sicher nie träumen lassen, dass er einst in einem Text des Großneffen auftauchen würde. (ts)