Aufgefangen

Wir nennen es Vergangenheit. Schüchtern blinzelt sie durch das Gestrüpp meiner Lebenszeit. Einen Tarnumhang, der Dinge wohl verbirgt, gewebt von meinem verborgenen Ich, um ihre Schultern. Da sind sie, meine ersten Schritte im damaligen Westberlin. Die Behörden verfrachteten mich nach ein paar Nächten im Auffanglager Mariendorf in eine Männerpension. Ich kann mir nach wie vor keinen viel unwürdigeren Ort vorstellen. Der Schock saß tief. Zwei Doppelstockbetten, belegt mit verwahrlosten Herren in Jogginghosen, die ohne Aussicht auf eine lebenswerte Zukunft dahindümpeln. Der Fernseher lief ohne Unterbrechung. Die Aschenbecher quollen über. Es war die Hochzeit des deutschen Tennis. Vermutlich die Quelle meiner Aversion gegen diesen Sport, so nicht selbst betrieben. Glücklicherweise musste ich das nur wenige Tage ertragen. Ein WG-Zimmer nah am Ku’damm – die Erlösung! Nun hieß es meine berufliche Zukunft zu betrachten. Ich bewarb mich kurzerhand bei der BVG. Ein logischer Schritt, denn in Leipzig war ich ein paar Jahre als Straßenbahnfahrer tätig gewesen. Die Berliner Verkehrsgesellschaft bedankte sich artig und teilte mit, der Bewerbungsprozess würde mindestens ein halbes Jahr in Anspruch nehmen. So lange wollte ich nicht untätig bleiben, also schrieb ich auch dem Euromarkt, einem lokalen Einzelhändler. Gefühlt lag die Antwort bereits nach meiner Rückkehr vom Ausflug zur Post, wo ich Briefmarke und Umschlag für den Versand der Depesche erstanden hatte, im Briefkasten. Man freue sich über meine Bewerbung und könne mir die Position eines Hilfsarbeiters anbieten. Einzelhändler – ein verwirrendes Wort. Dürfen Güter dort etwa nur einzeln erworben werden? Der erste Arbeitstag verschob seine Position im Kontinuum von morgen nach heute. Ein blauer Kittel dominierte jetzt mein Erscheinungsbild. Die mir übertragene Aufgabe bestand darin, Waren an der Laderampe anzunehmen, die vollen Paletten mit dem Hubwagen ins Lager zu bugsieren und schlussendlich Regale wieder aufzufüllen. „Herr Stein! Firma Trinks ist da!“ rief der Marktleiter gern quer durchs Geschäft. Die Produkte, die ich einräumte, waren mir größtenteils fremd. Ein paar kannte ich aus dem Westfernsehen. Doch so geballt war mir der Überfluss noch nicht begegnet. Staunend stand der Übersiedler vor unzähligen Shampoomarken und laß die Werbeslogans der vielen Müslisorten. In der Kaufhalle meiner Jugend hatte es genau ein Haarwaschmittel und kein Müsli gegeben. Alles in Allem war der Job jedoch erträglich. Ich ließ die Tage auf mich wirken, so gut dies einem jungen Menschen möglich ist. Die Welt ist überall gleich, und so gibt es auch unter den Beschäftigten eines Supermarktes Gemengelagen. Diese zu durchdringen fand ich schon immer spannend. Wer mag wen und wen nicht. Welche Seilschaften sind erkennbar? Zu wem wäre eine Kontaktaufnahme wünschenswert? Eine Nachricht der Verkehrsbetriebe riss mich aus meinen Studien. Der schon im ersten Antwortschreiben angekündigte Einstellungstest stand an. Etwas nervös begab ich mich zum übermittelten Termin an den angezeigten Ort. Dort hockte ich mit ungefähr zwanzig Anderen in einer Art Klassenraum. Begrüßung. Es würde ein Diktat und eine Mathematikaufgabe geben. Na dann mal los. Es wurde diktiert. Satzzeichen werden angesagt. Der Schwierigkeitsgrad hätte Grundschüler der DDR nicht überfordert. Die Matheaufgabe. „Sie haben 9,20 Mark in der Kasse und verkaufen zwei Fahrscheine zu je 2,40 Mark. Wieviel Geld ist nun in der Kasse?“ Ich warte aufmerksam auf die Fortsetzung der Aufgabe. Doch nein, das war es schon. Die Zettel werden eingesammelt und wir bekommen im Vorraum Kaffee in Plastikbechern. Nach einer halben Stunde werden wir wieder hineingebeten. Was folgt ist eine der größten Überraschungen meines Lebens. Zwei Drittel hatten diesen Test nicht bestanden. Sollte man mich heutzutage gedankenversunken und kopfschüttelnd auf einer Parkbank sitzen sehen, so ist davon auszugehen, dass mir dieser Moment nochmals durch den Kopf huscht. Dem Test folgte noch ein Medizincheck, dann hieß es wieder warten. Die Zeit versüßte ich mir mit dem Stapeln von Limonadenkisten. Nach zwei Monaten im Amt als Lagerarbeiter hielt es der Chef für passend, seine alten Hosen und Hemden unbekannter Konfektionsgröße vor meinen Spint zu legen. Ich könne sicher etwas davon brauchen. Eine unangenehme Situation. Aber auch ein Erlebnis, von dem nicht jeder berichten kann. Getragen habe ich die Sachen nie. Sie wurden einem WG-Mitbewohner überreicht, der sich dankbarer als ich zuvor zeigte. Erfahrungen sind die Mütter der Weisheit. Mit großer Vorsicht biete ich Eltern im Bekanntenkreis gebrauchte Kindersachen aus dem Fundus der Töchter an. Den Altkleidercontainer kann man nicht beleidigen. Ein paar Monate später kam die Zusage der BVG. Ich reichte umgehend meine Kündigung ein. Diese wurde mit Bedauern zur Kenntnis genommen. Wir hatten uns aneinander gewöhnt. Ab und zu erinnere ich mich an diese Zeit. „Herr Stein! Firma Trinks ist da!“ (ts)