Das blaue Kleid

In Hamburg steht N. am Morgen in der Tür, unsere Augen sind gerade erst aufgegangen.
„Möchtest du das Kleid haben“, fragt sie und streckt mir ein dunkelblaues, seichtes Etwas mit Silberglitzer an den Säumen entgegen.
Ich zögere, beantworte das Angebot nur fragend mit den Augen.
Ich strecke meine Hand aus, mein Zögern wird größer, als ich die Kleidergröße im Kragen sehe.
Es passt besser als befürchtet. 
Es ist ungewöhnlich für mich, aber nicht schlimm.
Es ist irgendwie nicht mal schlecht.
Hm.
Ganz leicht ist es, so leicht, dass die Gefahr des nach dem Toilettengang-in-die-Strumpfhose-stopfens-und-nichts-Bemerkens sehr groß ist.
Wir nicken, lachen die Gefahren weg und ich begehe den Tag probeweise genau so gekleidet.
Die Stiefel rücken die leichte Seichtigkeit wieder etwas zurecht. 
Wir sitzen auf Weg zum Arbeitsort im Auto, als N. an der Ampel eine Frau entdeckt, der besagtes Unglück passiert ist.
Wir leiden beide vereint mit ihr, sind aber zu weit entfernt, um etwas richten zu können.  
Und sehen, dass eine andere Frau es auch bemerkt hat, schneller geht und Erstere vor schlimmem Schämen bewahrt, indem Sie sie anspricht. 
Die Ampel wird grün und vier Menschen sind erleichtert.

(aw, 12/2019)