Ungemach

Es ist schwerlich ein besserer Ort fürs Ableben geeignet, als der Platz hinter dem Dirigentenpult. Bei meinem letzten Opernbesuch erlitt der Maestro glücklicherweise nur einen Schwächeanfall, von dem sich der gute Mann schnell erholt haben soll. Die Vorführung wurde dennoch vorsorglich beendet. Und doch, dieser Moment, in dem das Ungeheuerliche geschah, war interessant. Das Stück in vollem Gang, ein Zwiegesang erklang, das Orchester begleitete vielstimmig. Andächtiges Lauschen. Plötzlich, innerhalb von Sekunden, veränderte sich etwas. Ähnlich dem Augenblick, in dem man sich befindet, wenn man über den Fahrradlenker geschleudert wird und genau weiß, der Sturz läßt sich nicht mehr verhindern. Ungemach verschafft sich Raum. Im Opernsaal Geräusche, die nicht dazuzugehören schienen, merkwürdiges Klappern irgendwo. Ein Moment der Orientierungslosigkeit. Sänger und Sängerin unterbrachen ihr Duett, als wäre bei einer Gesangsprobe etwas misslungen. Riefen, sorgenvoll in den Orchestergraben schauend, nach einem Arzt. Musiker spielten ihre Noten nicht zu Ende. Die Streicher hoben die Bögen, die Hornistinnen senkten die Hörner. Ein letzter Paukenschlag. Stille, dann Raunen. Der Kapellmeister am Boden. Ich dachte sogleich, ein wenig pietätlos, über dieses merkwürdige Gleichnis nach. Unerwartet Verstorbene und deren Umfeld würden es vermutlich ähnlich wahrnehmen. Von einem Moment zum nächsten, alles dahin. Sämtliche Pläne Makulatur. Die Welt steht still. Aber nur für die Dauer eines Wimpernschlags. Dann setzt sie sich langsam wieder in Bewegung. Die Menschen stehen im Foyer, diskutieren das Erlebte. Sie halten kurz inne, sind irritiert. Jedoch, die Wucht des Schicksals ist einfach zu stark. Wir halten nicht stand. Uns ist klar, der Versuch unsere Geschicke zu lenken wird an einem gewissen Punkt scheitern. Und so gehen alle wieder ihrer Wege, hoffend es werde schon alles gut. Das Leben ist eine Oper. (ts)