Wie die Faust aufs Auge

Vor einiger Zeit sprang mir diese Redewendung gleich mehrfach ins Auge, oder genauer gesagt: direkt ins Hirn.
Warum eigentlich soll denn was auch immer wie die Faust auf welches Auge passen?
Eine Faust hat auf einem Auge nichts zu suchen, weder am eigenen noch auf einem fremden.
Ich habe die Redewendung – soweit ich mich erinnere – stets für etwas, das vermeintlich gut zusammenpasst, also unironisch, in jedem Fall jedoch unreflektiert genutzt. Bei der Recherche merkte ich dann, dass sich ihre Bedeutung im Laufe der Zeit verändert hat.
Und so wird dann schon eher ein Schuh draus, denn die Redewendung lautete ursprünglich:
Das reimt sich wie Faust auf Auge.

Tja, das reimt sich nicht, also wurde die Redewendung genutzt, um auszudrücken, dass etwas oder jemand nicht zusammenpasst.
Passt.

Später dann kam die ironische Nutzung hinzu. Fortan machte der Ton die Musik … und irgendwann wurde der ironische Ton so leise, dass fortan nur die positive Nutzung Platz im Rampenlicht hatte.

Anders als bei „Sein Licht unter den Scheffel stellen“, bei dem ich mir nie merken kann, ob sich jemand verkleinert oder vergrößert darstellt und dafür kritisiert wird, habe ich über die Redensart mit der Faust noch nie diskutieren müssen.

Und während ich immer mal wieder über die Redensart nachdachte, lief sie mir noch ein weiteres Mal über den Weg, buchstäblich im wahren Leben bzw. im Gerichtssaal.

Ich bin Schöffin im Jugendgericht, bisher hatte ich wenige Einsätze, habe aber bei jeder Verhandlung viel gelernt.
Über die Richterinnen und Richter, die wie strenge Eltern auftreten, aber auch mal Dinge mit Absicht nicht benennen, um den Angeklagten oder auch Zeugen nicht noch zusätzliche Steine in den Weg zu legen. Wenn es denn den Anschein hat, als wären die Jugendlichen dabei, die Kurve vor dem Abrutschen gerade noch einmal zu kriegen.
Über die Anwältinnen und Anwälte, die das Mandat engagiert oder arrogant nicht nur den Mandanten, sondern auch den anderen Beteiligten gegenüber umsetzen.
Über die Vorurteile, die ich im Gepäck hatte und habe und die ich beschämt bemerkte und zu korrigieren versuche.

An besagtem Tag nahm ein blonder, blasser, pickeliger Jugendlicher auf der Anklagebank Platz. Seine hochschwangere Mutter setzte sich hinter ihn. Ich schäme mich für meine Gedanken, ich schäme mich so sehr, dass ich meine Gedanken nur verkürzt wiedergeben mag, ich dachte: Klar, dass er dort sitzt.
Sein Anwalt zeigte schon mit den ersten Worten, dass er den Fall für unter seiner Würde hielt, mehrfach unterbrach er seinen Mandanten unwirsch, ich fragte mich, warum nimmt er so ein Mandat an, was hat er für ein Problem, dass er sich so verhält. Die Kleidung, die unter der anwaltlichen Robe zu sehen war, protzig, seine Haut als einzige im Saal sonnengebräunt. Mehrfach war er schnippisch bis unverschämt zur Richterin und zur Jugendgerichtshilfe.
Die Richterin verlas die Anklage und erteilte eine Rüge an die Mutter: Es war bereits der zweite Versuch des Prozesses. Beim ersten Versuch waren Mutter und Sohn nicht erschienen, alle anderen schon.

Meine Vorurteile passten noch.

Sie begannen zu wanken, als die Vertreterin der Jugendgerichtshilfe berichtete: Der Angeklagte steckte in einer schwierigen Schullaufbahn mit mehrfachem Schulwechsel, komplizierter Familiensituation, Mutter überfordert, mit neuem Partner an der Seite, der bald Vater werden wird. Kein Kontakt zum leiblichen Vater.

Dann kam als Zeuge der Vater des geschädigten Jungen, 2017 mit dem Sohn aus Syrien geflüchtet. Seinen alten Beruf konnte er hier nicht ausüben, so wurde er Busfahrer, sein gutes Deutsch und seine Neuorientierung wurden allseits gelobt.
Sein Sohn kam mit einem geschädigten Auge in Deutschland an, ein Splitter hatte es im Heimatland verletzt.

Auf genau das geschädigte Auge hatte der Angeklagte seine Faust gesetzt.
Die Folge war weitere Einschränkung der Sehkraft.
Schwarz und weiß schien dennoch immer noch so gut wie klar.
Im weiteren Verlauf jedoch kamen weitere Farben hinzu.

Der geschädigte Junge kam mit Belastungen nach Deutschland, die dazu geführt haben, dass er im Unterricht nicht konzentriert folgen konnte, viel redete, nicht lange sitzen konnte, gerne provozierte, gerne auch den Angeklagten.
Im Zeugenstand dann Mitschüler, die schilderten, wie es in der Klasse zuging.

Der Angeklagte, der in der Schule überfordert war, nicht mitkam beim Lerntempo, in der Klasse so das Mobbingopfer wurde und sich irgendwann dann nicht mehr anders zu helfen wusste als durch Zuschlagen. Der dann wieder die Schule wechseln musste.

Und darum nun die Konsequenzen zu tragen hatte, weil eine Faust nun mal nicht auf ein Auge gehört.

Wie die Faust auf Auge – ein letztes Mal noch will ich die Redewendung schreiben  – allerdings passte die geleitete Wahrnehmung, die mich hellhörig werden ließ, als ich Ronen Steinke im Interview von Nicolas Semak hörte (Viertausendhertz/Elementarfragen).
Der Titel seines Buches: Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich.

Treffer, versenkt. (aw) 2022