Von Wegen

Ich habe darüber nachgedacht, warum ein bestimmter Weg gut mundet, ein anderer hingegen nicht. Weshalb gehe ich in diesen Laden und nicht in jenen? Gibt es einen Grund für die gewählte Radelstrecke? Dazu komme ich ein bisschen später. Ganz generell scheint mein Bedarf in von mir bis dahin unbetretene Gefilde vorzudringen, kleiner zu werden. Allen Berlinern ist dieses Phänomen ja grundsätzlich bekannt. Man hat seinen Kiez. Die andere Seite der Stadt ist so unbekannt wie das Südchinesische Meer. Kein viel anderes Erleben als damals während meiner Kindheit auf dem Dorf. Nun habe ich in den Neunzigern lange in Schöneberg gewohnt. Beim Italiener mit Namen begrüßt, ein Plausch mit der Kassiererin bei Bolle. Einen Tee mit dem Besitzer des Falafelladens. Ich war also wieder auf dem Land. Die neue Freundin, die in mein Leben trat, riss mich aus der Idylle. Sie wollte in den damals noch wilden Prenzlauer Berg. Als Ossi mit Wessi Freundin hat man es nicht leicht. Oh, die beiden Begriffe, die zur Klassifizierung nach einstiger Staatszugehörigkeit dienen, erinnern mich an eine kleine Begebenheit. Kurz nach dem Mauerfall ergab sich die Möglichkeit eines Besuches des Münchner Oktoberfests. Spontanität atmend saß ich alsbald im Zug nach Bayern. Mit ein paar Freunden dann auf der Gaudi entschieden wir uns dazu in eins der großen Zelte zu gehen, um uns Alles mal aus der Nähe anzuschauen. Drinnen war ein Riesenlärm. Zwei in etwa gleich große Gruppen grölten in Fußballstadionlautstärke abwechselnd ein Wort. Ich verstand das Gebrüllte nicht, meinte aber das Wort „Ossi“ rauszuhören und war verwirrt. Kandidatenstimme beim Glücksrad: „Ich möchte lösen!“. Wir waren in einer Lokation gelandet, die von Australiern und Neuseeländern gern frequentiert wird. Und die riefen sich zu: „Kiwi“ – „Aussie“. Offenbar in einer Art Wettbewerb. Es galt herauszufinden, wer mehr Dezibel erzeugen konnte. Oh, das Wort „rufen“ ruft in mir eine weitere Erinnerung wach. In einem Fernsehbeitrag wurden mal zwei Gesangslehrer gebeten, die Qualität der Stimmen in Mainstreamproduktionen zu bewerten. Die beiden Profis meinten lachend zur überwiegenden Anzahl der Kostproben: „Das ist kein Singen, das ist Rufen!“. Wir sind gedanklich zurück in Berlin. Der Umzug in den anderen Stadtbezirk lag bereits ein paar Jahre zurück. Nun war mir, sehr überraschend für mich, Schöneberg wieder fremd wie es einst der Hippsterbezirk gewesen war. Auch früher hielt sich meine Fexibilität in puncto eigener Aufenthaltsort also offenbar in Grenzen. Heute beobachte ich aber, dass mich schon Baugerüste hinter denen die Welt vermutlich weitergeht, verscheuchen. Ich wähle eine andere Route. Verschmähe den Händler von dem ich durch eine temporäre Hürde getrennt wurde. Eine große Straßenkreuzung die mich daran hindert einen Laden mit preiswerteren Produkten aufzusuchen. Der, wenn auch weitere, Weg an einem kleinen Park vorbei, ist der Gewinner meiner Wegfindungsroutine. Dasselbe gilt für meine Fahrradfahrten. Mir geht es nicht um Geschwindigkeit sondern um Schönheit. Der Weg von A nach B sollte anmutig sein. Das hat höchste Priorität. Abschließend sind es die banalen Dinge, die einen großen Einfluss ausüben. Ich fühle mich bei Lebensmitteln an bestimmte Produkte gekettet. Sollten keine anderen Probleme beim Aufsuchen des Geschäfts bestehen, möchte ich in das gehen, das dieses eine Mineralwasser führt. Gewohnheiten und Favoriten steuern meinen Tag. Hach je wie schrecklich, wo sind sie hin, die Zeiten in denen ich leichten Herzens einem kompletten Gesellschaftssystem den Rücken kehrte. Morgen irritiert mich vermutlich eine lange Warteschlange beim Bäcker. (ts)