Reise zu den Balearen

Das Folgende begab sich vor geraumer Zeit. Eine Familienreise nach Mallorca stand an. Die älteste Tochter, die dort bei ihrer Mutter aufwuchs, verlangte einen Besuch. Leider hatte ich zu diesem Zeitpunkt bereits eine ausgewachsene Phobie gegen das Fliegen entwickelt. Andere Ängste steckten noch in den Kinderschuhen, einige waren bereits im wohlverdienten Ruhestand. Ich kaufte notgedrungen ein Ticket für den Nachtzug nach Paris und kehrte meinem heißgeliebten Berlin den Rücken. Die erste Etappe der Tour Prenzlberg – Palma hieß also Berlin – Paris. Die nötigsten Dinge wurden in einen Koffer geschmissen und auf ging’s zum Bahnhof Zoo, wo zu dieser Zeit die Nachtzüge starteten. Im Schlafabteil zu liegen und aus dem Fenster zu schauen, lässt bei mir das Gefühl entstehen, ich sei in einem Lars von Trier Film. Hypnotisierend wie in „Europa“, ein Produkt des Dänen das mich lange beschäftigt hat, versetzen mich die vorbeirauschenden Lichter in eine Art Trance. Nicht wach, aber auch niemals die REM-Phase erreichend, plätschern die Stunden dahin. Rhythmische Fahrgeräusche verschönern immerhin das Schweigen der Nacht. Appropos Lars von Trier. Ich hatte mal die ziemlich dumme Idee bei einem ersten Date einen Kinobesuch vorzuschlagen. Für sich genommen schon durchaus problematisch. Nun schauten wir uns aber zu allem Überdruss auch noch „Breaking the Waves“ an. Ein Kunstwerk, welches normal empfindende Wesen in eine einwöchige Rekonvaleszenz zwingt. Das Date und ich verließen niedergeschlagen das Filmtheater. Unmöglich danach irgendwie zu Romantik überzuleiten. Ich sah die Frau nie wieder. Zurück zu meinem im Schlafabteil ruhenden Alter Ego. Nachdem die Nacht mehr oder weniger durchdämmert war, klopfte gegen acht der Schaffner an die Türen, um das sich nähernde Ziel anzukündigen. Es gab Kaffee, ein Croissant, ein Ei, Orangensaft und wenig hilfreiche Erfrischungstücher. Draußen zog die Vorstadt vorbei. Und schon stand man mit seinem Koffer auf dem Bahnsteig, und versuchte sich zu orientieren. Die zweite Etappe trug den Namen Paris – Barcelona. Natürlich auch wieder eine Reise durch die Dunkelheit. Folglich, ein voller Tag in der französischen Hauptstadt. Ich schlich die Avenue des Champs-Élysées entlang, trank Café au Lait in einem Bistro, spazierte vorbei am Louvre und Notre-Dame. Die Faszination für Orte ist mir, wie mittlerweile alle ahnen, fremd. Ich setzte mich also einfach in einen Park und las die mitgebrachte Wochenzeitung. Abendessen in einem Restaurant in der Nähe des Bahnhofes, der den Start der zweiten Teilstrecke markierte. Eine Schnitzeljagd kurz vor Abfahrt des Nachtzuges wollte ich unbedingt vermeiden. In der Empfangshalle der Station spielt jemand Klavier. Einen Flügel neben einem Zeitungsgeschäft zu sehen, überraschte mich ein wenig. Kultur an diesem Ort? Ich genoss die Musik ein kleines Weilchen. Die Komposition passte wunderschön zu den durchs Gebäude flatternden Stadttauben. Jetzt aber Einsteigen! Diesmal nur Liegewagen. Mein Schlafzimmer ist mit drei weiteren Reisenden belegt. Ich sehe sie nur kurz. Sie entschwinden in einen anderen Abschnitt der Eisenbahn. Vermutlich findet irgendwo eine Party statt. Soll mir recht sein, denke ich. Ziemlich übermüdet sinkt ein einsamer, aber zufriedener Globetrotter in tiefen Schlaf. Das erste Sonnenlicht weckt mich. Ich bin in Barcelona. Auch hier habe ich einen Tag Aufenthalt. Ich stromere durch die Stadt, vorbei an vertäuten Yachten und fliegenden Souvenirhändlern. In der Ferne eine Sehenswürdigkeit, die ich gar nicht erst ansteuere. Zu weit weg. Zu sehenswürdig. Beim Schlendern, merke ich, ich fühle mich hier wohl. Hügelig liegt der Ort am Meer. Eine schöne Kombination. Ich esse Eis am Stiel, sitze am Kai und lasse mich von der See anblinzeln. Offenbar lebt in mir eine seichte Affinität zu tiefem Wasser. Es beruhigt mich auf wundersame Weise. Auf dem Weg zurück zum Hafen, komme ich an einem hübschen altertümlichen Hotel vorbei. Hier werde ich auf der Heimreise übernachten. Ein Streik der Bahnmitarbeiter wird die Planung einiger Fahrgäste in spe über den Haufen werfen. Auf mich wartet nun aber erstmal eine Seereise, auf die ich mich wie ein kleiner Junge freue. Spät abends legt die Fähre ab. Vorher gibt es noch schnell pollo con papas fritas in einem malerischen Restaurant zwischen Felsen und Palmen. Beim Boarding bestaune ich den riesigen Stahlkoloss der es tatsächlich schafft, sich über Wasser zu halten. Doch nur, weil er sich klugerweise an die physikalischen Gesetze hält. Wie schon zuvor im Zug, wühle ich viel zu lange in meiner Tasche nach den Tickets. Es ist nicht schön mit ungeduldigen Menschen interagieren zu müssen, fällt mir beim Anblick des genervt wirkenden Reedereimitarbeiters auf. Ich fasse mich mal eben an die eigene Nase. Kurz darauf stehe ich aber an der Reling und genieße es, den Abstand zur Küste größer werden zu sehen. Es gibt noch ein kleines Nachtmahl im Schiffsbistro und hinterher zwei Zigaretten samt Flaschenbier an der frischen Luft. Schliesslich schaukelt mich das Schiff sanft in den Schlaf. Geweckt werde ich von einem in meiner Einzelkabine montierten Lautsprecher, aus dem Unverständliches an mein Ohr dringt. Ein Blick auf die Uhr bestätigt, höchstwahrscheinlich Land in Sicht! Ein Schnipsel spekulativer Vergangenheit saust durch meine Windungen. Vermutlich stand vor wenigen Minuten der erste Offizier auf der Brücke und suchte beim Kapitän nach einer zustimmenden Geste. Darf ich die Passagiere wachküssen? Den Finger hat er schon am Einschaltknopf des Mikrofons. Der Kaleu nickt fast unmerklich. Umgehend beginnt Nummer Eins mit der Durchsage. Zeitgleich öffnen sich ein paar hundert Augen in fragend schauenden Gesichtern. Nach einem schnellen Frühstück darf ich noch auf dem Sonnendeck das Einlaufen der Fähre in Palma mit fachmännischen Blicken begleiten. Dann stehen der Koffer und ich an der Hafeneinfahrt. Wir halten nach einem Taxi Ausschau. Es ist noch früh am Morgen. Die Straßen sind menschenleer. Fast drei Tage habe ich für das gebraucht, wofür andere nur knapp zwei Stunden benötigen. Verschwendete Zeit? Kommt drauf an wen man fragt. (ts)