Die Reise nach Berlin (1/2)

Er wachte auf wie fast jeden Morgen. Etwas unentschlossen. Aufstehen? Doch noch einmal rumdrehen? Das Bett, in dem er auch als Teenager geschlafen hatte, war beim Umzug mitgekommen. So wie ein paar andere Dinge, die im Alltag unentbehrlich sind. Geradeaus, einmal links und schon stand er in der Küche der Sechsraumwohnung, die er mit einem Fagottisten und zwei Musikstudenten im Hochparterre eines heruntergekommenen Mietshauses teilte. Wasser in den Wasserkocher für den Kaffee. Die entstehende Pause bis zum Sieden nutzte er für einen Gang zum Briefkasten. Nur eine unscheinbare Karte lehnte sich gegen den Metallbügel der verhindern soll, dass beim Öffnen die Korrespondenz herausfällt. Er ergriff und wendete sie. Es dauerte ein paar Sekunden bis ihm klar wurde, was die Wörter, die auf der Karte standen, bedeuteten. „Bitte umgehend bei Abteilung Inneres vorsprechen, zwecks Durchführung Ihres Anliegens.“ Unterschrift, Adresse usw. Er spürte, wie Adrenalin seinen Körper flutete. Das war also der Moment, in dem sein Leben eine neue Wendung nehmen würde. Der Augenblick auf den er drei lange, zermürbende Jahre gewartet hatte. Kaffee und Zigarette sorgten für ein bisschen Normalität. Geistesabwesend schaute er auf das Claire Waldoff Plakat, das mal irgendwer in seinem Zimmer aufgehangen hatte. Nun gut, auf in die Höhle des Löwen – die Staatssicherheitszentrale. Mit einer Mischung aus Euphorie und Furcht, klopfte er an die Tür, die auf der Karte an ihn vermerkt war. Eine Person in Uniform der Nationalen Volksarmee an einer Art von Tisch, die später im DDR-Museum zu sehen sein würde. Dünne, metallene, schwarze Beine. Zerbrechlich wirkende, glänzende Pressspanplatte oben drauf. Man fragte sich, ob der Tisch das Kapital von Marx tragen könnte. An der Wand ein Bild vom Staatsratsvorsitzenden. Den Sinn solcher Porträts hatte er nie verstanden. Aus einem schmucklosen Bilderrahmen heraus von der Obrigkeit angelächelt zu werden, hatte etwas Perfides. Dazu ein unfreundlicher Gruß des Beamten. Er überreicht dem Offizier die Karte. Mürrisch wird sie entgegengenommen. „Ihre letzte Möglichkeit es sich anders zu überlegen!“ gibt der Stasimann mit zusammengekniffenen Augen zu bedenken. Ein Stück Papier wird ihm rübergeschoben. „Der Laufzettel.“ wirft ihm der Beamte entgegen. „Bis heute 16:00 Uhr muss er ausgefüllt und von den entsprechenden Behörden abgestempelt hier abgegeben werden.“ Das kann anstrengend werden dachte er beim Betrachten des Zettels. Vermieter, Arbeitgeber, Krankenkasse und ein paar andere offizielle Stellen mussten bestätigen, dass er keine Schulden bei ihnen hatte. „Nachher bekommen Sie von mir eine vorläufige Identitätsbescheinigung, mit der Sie einen Fahrschein kaufen können. Der Zug nach Fulda fährt 18:33 Uhr. Bis 24:00 Uhr haben Sie das Land verlassen.“ Der Beamte blickte wieder auf seine Unterlagen ohne weiter Notiz von ihm zu nehmen. Die nächsten paar Stunden vergingen zwischen Hoffen und Bangen. Würde er alle Informationen zusammenbekommen? Was, wenn nicht? Warten in Wartezimmern. Rennen nach Straßenbahnen. Der Versuch Freunde und Verwandte zu erreichen. Schauen in ungläubige Blicke. Tränen. Umarmungen. Immer wieder war er gefragt worden. Warum tust Du das? Warum dieses gewaltige Risiko? Eine richtige Antwort hatte er nie parat. Er hatte innerlich schon lange mit dem Land abgeschlossen und suchte nicht mehr nach Gründen dafür. Die Perspektivlosigkeit? Die unerträgliche Propaganda? Das Land stand still und sah auch ideologisch so aus wie die Fassaden der meisten Häuser. Kurz nach drei lieferte er den korrekt bestempelten Laufzettel ab. Abliefern musste er nun auch seinen Personalausweis. Jetzt war er staatenlos. Aber darüber machte er sich gerade keine Gedanken, so aufgewühlt wie er war. Also staatenlos zum Bahnhof. Der einzige Fahrkartenschalter ohne Schlange, war der für Fahrten ins nichtsozialistische Ausland. „Einmal Fulda bitte.“ sprach er in das runde kleine Sprechfenster, dass in etwa der Mitte der großen Scheibe war, die ihn von der Bahnangestellten trennte. Das Sprechfenster hatte ein Türchen aus Blech, in das kleine Löcher gestanzt waren. Unterhalb des Fensters eine Art Drehschleuse. Er legte das verlangte Geld hinein. Die Bahnangestellte kurbelte es herum. Auf der anderen Seite hatte sie vorher die Fahrkarte hineingelegt. Da lag es also nun. Das Ticket in die Freiheit.

Fortsetzung folgt. (ts)

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