Kein Kommentar!

Vor etlichen Jahren war es üblich seine Ansicht zu einem in der Zeitung gelesenen Sachverhalt zu Papier zu bringen, das Geschriebene in einen Umschlag zu stecken, sämtliche Schubladen auf der Suche nach einer Briefmarke zu durchwühlen, das hoffentlich mit einem hübschen Motiv versehene Postwertzeichen aufzukleben – ich schmecke den Klebstoff von damals noch heute – und abschließend die Kraft zu finden, sich auf den Weg zu machen und das Schriftstück in einen Postkasten zu werfen. Je nach Charakter ließ diese Kraft zwei Tage oder zwei Wochen auf sich warten. „Ach da bist Du!“ schimpfte man den verschwundenen Brief an, der sich unter allerlei Papier auf dem Küchentisch versteckt hatte. Es galt also zahlreiche Hürden zu überwinden. Daher überlegten es sich die Leute zweimal, bevor der Aufwand einen Leserbrief zu schreiben betrieben wurde. Ich persönlich habe in meinem gesamten Leben keinen einzigen verfasst. Hinzu kommt die Tatsache, dass nicht nur ein unreflektierter Satz per Post versandt wurde. Eine DIN A4 Seite eigener Gedanken musste es schon sein. Die Welt der Leserbriefe war in einem natürlichen Gleichgewicht mit sich selbst. Gar nicht davon zu reden, auf den Leserbrief eines anderen mit einem eben solchen zu antworten. Das war so selten wie die Einschätzung Pluto sei kein Planet. Heute ist es kinderleicht einen Online Zeitungsartikel zu kommentieren. Dieser Kommentar wiederum wird natürlich überflüssigerweise von anderen Kommentarlesern kommentiert. Es ist ein wildes Kommentierhinundher. Auch Gazetten selbst kommentieren ohne Unterlass jede Nuance des öffentlichen Lebens. Ein seltsames Biotop aus Rechthabern und Echauffierten ist entstanden. Geht es um Themen aus dem Hause Staub & Wirbel, muss man um die Server bangen, die die Wortmeldungen sortieren. Ich vermute hier hat die Evolution eine neue Spezies hervorgebracht. Homo Sapiens Explanatio. Was deren Überlebensvorteil ist, bleibt vorerst ein Geheimnis der Forschung im Namen Darwins. Vielleicht besucht uns eines Tages eine außerirdische Reisegesellschaft und bedankt sich bei allen die ihrem Sendungsbewußtsein mehr Raum als nötig gegeben haben mit einem für uns dumme Würmchen momentan unvorstellbaren Geschenk? Denn die Hirnströme der Kommentierer bildeten ein komplexes Muster, das von den Aliens empfangen wurde und ermöglichten so den Erstkontakt. Der bis dato unbekannte sternensystemübergreifende Evolutionseffekt. Eine plausiblere Erklärung habe ich nicht. Dem zuwiderlaufend male ich mir aktuell gern aus, das Internet stellte endgültig seinen Dienst auf Grund des Mitteilungsbedürfnisses der Nutzer ein. Schluss, Aus, Ende, Feierabend. Ein plötzliches Knistern, Zischen, dann buntes Funkensprühen aus den Servereinschüben. Es folgt seltsame Stille in den üblicherweise ohrenbetäubend lauten heiligen Hallen der Internetindustrie. Am Morgen nach dem Totalausfall würde ich mir ein Nachrichtenblatt am Kiosk besorgen, mich mit einer Tasse duftenden Kaffees in meine Hollywoodschaukel schwingen, die ratlosen Editorials lesen, die die Frage stellen, wie konnte das Alles nur passieren und kurz darüber nachdenken, ob es lohnt einen Leserbrief zu schreiben. (ts)