Der erste Marathon

Lasst mich von meinem Langstreckenlauf berichten. Letzten Sonntag stand ich morgens halb zehn an der Startlinie des Hamburg Marathons. Umgeben von vielen anderen Laufwilligen. Alle gehüllt in atmungsaktive Funktionskleidung. Sportuhren, die Puls und Tempo aufzeichnen, am Handgelenk. Die Füße in Schuhen, deren Material für Raumstationen entwickelt wurde. Der Laufsport erlaubt es auch Amateuren die Ausrüstung der Weltmeister zu nutzen, ohne sich finanziell zu ruinieren. Zweiundvierzig Kilometer vor der Nase stand nun der alte Mann da und ließ die launigen Sprüche und Animationsversuche des Veranstalters über sich ergehen. Die Zwölftausend setzten sich in Bewegung. Drei Jahre Vorbereitung und ein defensiver Rennplan sollten mich nach circa viereinhalb Stunden ins Ziel tragen. Sehr schnell taten sich große Lücken zwischen den angehenden Marathonis auf. Ich gab meiner Sturheit größtmöglichen Raum und trabte mit eingeschaltetem Tempomat vor mich hin. Kilometer zehn. Ich bin warmgelaufen. Die Freundin strahlt am Straßenrand. Ein kurzer Kuss beim Vorbeilaufen muss genügen. Die Sonne blinzelt durch die Wolken. Freue mich über meine Schirmmütze. Winke den Zuschauern zu und klatsche ausgestreckte Hände wildfremder Menschen ab. Kilometer zwanzig. Die natürliche Barriere des moderat trainierten Läufers. Charlotte neben mir atmet etwas zu schnell für den aktuellen Kilometerstand. Da die Vornamen unter den Startnummern stehen die man trägt, sind alle informiert. Auch die Fans. Unbekannte feuern mich an, in dem sie laut meinen Namen, begleitet von ein paar motivierenden Worten, rufen. Irgendwie schön. Bisher habe ich nur an einer Versorgungsstation etwas getrunken. Bei Kilometer fünfzehn eine Banane gegessen. Jetzt ändert sich das Körpergefühl. Die Beine und der Geist leisten Widerstand. Sachte noch. Nach den Monaten des harten Trainings fühle ich mich zwischen Kilometer zwanzig und fünfundzwanzig ganz wohl. Kilometer dreißig. Ich bin glücklich. Ziemlich glücklich sogar. Ich weiß zwar, es ist noch ein gutes Stück, beginne aber zu ahnen, dass ich es schaffen könnte. Man blickt in konzentrierte Gesichter, die sofort lächeln wenn sich die Blicke kreuzen. Der Asphalt zieht unter mir vorbei. Straße um Straße. Ich versuche nah der blau markierten Ideallinie zu bleiben. Lausche in mich hinein, auf der Suche nach Beschwerden, die möglicherweise von meinen Bauteilen vorgebracht werden. Kilometer achtundreißig. Zahlreiche Sanitäter halten Ausschau nach Hilfsbedürftigen. Ihre Erfahrung sagt ihnen, ab hier werden sie oft gebraucht. Wie geht es mir eigentlich? Ganz okay, lautet die einigermaßen überraschende Antwort. Die Verpflegungsstationen rücken näher zusammen. Ich trinke Cola. Wahnsinn wie gut das tut. Die Bewegungen der Läufer sehen unrunder aus. Viele legen Gehpausen ein. Auch Angela, die von ihren beiden Söhnen auf Fahrrädern eskortiert und aufgemuntert wird. Sie löst die in die Hüfte gestemmten Hände und joggt langsam wieder los. Kilometer vierzig. Würde mich gern mal fünf Minuten hinlegen. Noch zwei unendlich lange Kilometer. Ich laufe immernoch. Unfassbar. Es werden wieder mehr Menschen die an der Strecke stehen und uns Richtung Ziel schreien. Die letzten Meter auf rotem Teppich. Ich überlaufe die 42,2 Kilometermarke. Die Beine brennen, der Puls hämmert, der Rücken schmerzt. Glückliche Gesichter umgeben mich. Ich hatte immer geglaubt, ich würde beim Umhängen der Medaille in Tränen ausbrechen. Doch in dem Moment regieren Ungläubigkeit und Freude. Noch für eine ganze Weile. Ich bin ein Marathoni! (ts)

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