Die Reise nach Binz

Die Reise beginnt mit einer Reise. Mit einer Bahnreise. Ich liebe es mir den Luxus zu gönnen und erster Klasse mit dem ICE nach Binz zu düsen. Auch wenn es nur wenig schneller als mit der Regionalbahn geht. Ausreichend Platz und ab und an kommt ein Zugbegleiter vorbei, reicht Kekse und versucht Getränkewünsche von den Augen abzulesen. Ich kuschele mich in meinen Sitz und betrachte die Kühe und Windkraftanlagen, an denen wir nonchalant vorbeigleiten. Mindestens einmal auf einer solchen Fahrt heißt es, wohl denn, ich besuch‘ mal die Toilette. Die WC’s sind meistens auch ganz akzeptabel. Ein höherer Hygienegrad wäre denkbar, ja. Allen sollte aber klar sein, wie die problematischen Stellen im stillen Örtchen entstehen. Keiner möchte sich auf die Brille mit unklarem Zustand in puncto Feuchtigkeit setzen. Also halten die Reisenden ein bisschen Abstand. Oh je, der Zug rumpelt über eine Weiche. Gleichgewicht einigermaßen gewahrt. Es folgt ein abrupter Gleiswechsel. Ok, das hat nicht wirklich gut geklappt. Doch wenigstens wurde die Situation ohne Verletzung überstanden. Eine naheliegende Frage drängt sich auf. Wie könnte man das Dilemma lösen? Nichts leichter als das! Die Bahn muss das WC einfach vom übrigen Waggon entkoppeln. Gesteuert von feinster Mikroelektronik aus dem Hause VEB Robotron, könnte eine Mechanik eingebaut werden, die als Trägheitsdämpfung fungiert. Der Wagen schaukelt, die Nasszelle gleitet rüttelfrei durchs Land. Zu teuer? Beim Film, sogar beim deutschen, gibt es Vergleichbares schon lang. Die sogenannten Steadicams sparen Bares, weil Schienenbau für Kamerafahrten entfällt. Eine ausgeklügelte Konstruktion gleicht wie von Geisterhand die vom Menschen beim Laufen erzeugte Schaukelbewegung aus. Man müsste also den Stundenlohn der Reinigungskräfte nur soweit erhöhen, dass sich auch der Einbau meiner Erfindung lohnte.

Wir erreichen Rügen. Die schöne Insel im Norden. Vieles musste sie ertragen über die Jahrhunderte. Dänen, Schweden und Preußen schlugen Schlachten um die Vorherrschaft. Aber eigentlich will sie nur in Ruhe gelassen werden. Einfach nur da liegen im Sonnenschein, das wäre was. Ihre Wälder, die dunklem, vollem Haar gleichen, von den Brisen zersausen lassen. Die Küsten, von Ostseewellen angeschmachtet. Seen spiegeln dunkle Wolken und Kreidefelsen zeigen den vorbeifahrenden Schiffen die kalte Schulter. Mehr bräuchte sie nicht. Damit wäre die Insel für immer glücklich. Doch ach, der Mensch ist auch noch da und gibt keine Ruh‘. So wie ich. Ich mag auch ein Stück vom Kuchen der Gelassenheit. Freue mich auf barfuß am Strand. Jetzt heißt es jedoch erst einmal auf ins Hotel und einchecken. Was spricht für eine Herberge mit Zimmerservice? Zunächst das leere Hallenbad im Keller. Ich bin nicht geschaffen für Seen und Meer. Zu ungewiß ist’s was in der Tiefe lauert. Die hoteleigenen Bademäntel natürlich! Ein Fahrstuhl, in dem man mit Fremden unbeholfen ein paar Floskeln tauscht. Der Koch, der Spiegeleier individuell am Morgen für mich zubereitet. „Einmal kurz wenden bitte“ – herrlich. Ein Concierge, den man nach dem besten Schokomilchshake am Ort fragen muss. Mit seiner Hilfe gilt es auch eine kurze Wanderroute zu bestimmen. Ein Kompromiss muss gefunden werden, zwischen dem, dem der Anblick des Leuchtturms am Horizont genügt und der, die ihn auch erklimmen will. Denn beide eint der Wunsch, wie damals als sie Kinder waren, durch die Natur zu stromern. Hach ja, die Tage ziehen schnell vorbei, weilt man in einem Ostseebad. Eben noch am Strand mit den Füßen nach Muscheln gegriffen und schon senkt sich die Sonne. Lass uns noch schnell einen Softdrink an der Strandbar nehmen! Der Zweite wird genossen während wir durchs kühle Uferwasser waten. Da wo die vom Meer zaghaft angedeutete Brandung dem Sande keine Chance gibt, jemals zu trocknen. Abreisetag kurz nach zehn. Vor einer halben Stunde saßen wir im Restaurant, aßen Ei, diesmal gerührt. Nicht zu vergessen die beiden treuen Freunde Kaffeeduft und Marmeladenbrötchen. Unverzichtbare Zutaten für ein gutes Frühstück. Nun stehen wir, etwas müde, am Entrée, begleichen gähnend die Rechnung für Kost und Logis. Hinter uns warten schon die Neuankömmlinge. Die nächste Urlaubergeneration, die Rügen nicht in Frieden lässt. Bereit fürs große Abenteuer. Doch unsere Sachen sind gepackt, vergessen wurde sicher nichts. Zurück zum Bahnhof. Zurück in die Stadt. Ich hab‘ Dich noch nicht vermisst Berlin! (ts)

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