Briefe ins Nirgendwo (1)

Liebe Anna Fischer,

vielen Dank für deine Frage.
Ich freue mich sehr, dass du eine zu deinem Namen passende Aufgabe gefunden hast!
Eine Missionierungsanfrage habe ich schon lange nicht mehr bekommen.
Die erste war damals, als ein freundliches, altmodisch gekleidete Paar an unserer Tür klingelte, freundlich begrüßt und im Handumdrehen von meiner Mutter verabschiedet wurde: „Guten Tag, vielen Dank, nein danke, wir sind Lutheraner, auf Wiedersehen.“  
Liebe Anna, du musst wissen, ich bin auf dem Land in Niedersachsen aufgewachsen und damals gehörte die aufsuchende Missionierung noch zum Portfolio einiger Menschenfischer.
Sie traten stets als Paar auf und gingen mit ihren Schriften bewaffnet von Haus zu Haus. Die Wege waren lang, damals in Niedersachsen, ich glaube, sie waren zu Fuß unterwegs. Und die meisten Menschen waren nicht so freundlich wie meine Mutter.
Mit 14 sah ich dann die passive Version der Missionierung in der Fußgängerzone einer nahegelegenen Kleinstadt. Inzwischen hatte der Umschwung stattgefunden, für die Missionierung musste nicht mehr gelaufen werden, fortan wurde, soweit ich das überblicke noch gestanden, mit den Zeitschriften in der Hand oder auf dem Ständer neben sich. Ich verhielt mich so, wie ich es gelernt habe: freundlich nicken, zuhören, wenn ich angesprochen werde, Nein sagen, wenn ich Nein meine, nichts unterschreiben, wegschauen, weitergehen. Obwohl ich noch genau weiß, wie ich damals im Weggehen dachte: Eigentlich finde ich die Idee des Angebotes ganz schön, in eine Gemeinschaft aufgenommen werden, dazugehören, egal wer ich bin. Egal, wie ich bin. Wären die Missionare nur nicht so schlimm angezogen gewesen, oder hätten verdeckter missioniert, wer weiß, ob ich nicht doch in die Richtung abgebogen wäre. Im Grund war ich damals eine genau passende Zielgruppe, mitten in der wackeligen Pubertät.
Bitte entschuldige, liebe Anna, ich möchte dir nicht zu nahe treten, dein Foto ist zeigt dich als gut gekleidet und attraktiv, auch schreibst du vermeintlich angemessen. Deine Nachricht erreichte mich auf Facebook, als Privatnachricht, aber das weißt du ja. Ich denke, dass ich zu einer ausgesuchten Zielgruppe gehöre, Frau in den Wechseljahren, keine Fotos mit Partner, keine Familie zu sehen.
„Frau Fischer, da ist ein perfektes Zielobjekt, schreiten Sie zur Tat, werfen Sie das Netz aus!“ mag jenes höhere Wesen, das wir verehren, gerufen haben. Oder die KI hat mich kommentarlos ausgespuckt.
Es tut mir leid, liebe Anna Fischer, ich möchte mich nicht mit dir über Gott unterhalten. Es fällt mir schwer, aber ich werde dir noch nicht einmal auf direktem Weg antworten.

Deine Anja. (aw)

Bonusbotschaft:
Berlin, gepflasterter Parkplatz vor einer katholischen Kirche.