Herbst (ts)

Die Tage werden kürzer, die Nächte kälter. Das steht vermutlich unter dem Profilfoto des Herbstes. In der Dating App für Jahreszeiten. Ein etwas eingeschränkter Nutzerkreis, zugegeben. Ungerecht wäre es zudem. Natürlich würden sich alle an den Frühling ranmachen. Der Sommer wäre zumindest nicht unbeliebt. Herbst und Winter müssten gucken wo sie bleiben. Wäre ich der Herbst, könnte ich mir eine Romanze mit dem Frühling vorstellen. Die anderen beiden wären mir zu manisch. Der eine verbrennt mir die Impressionen, der andere begräbt alles unter Schnee und Eis, ist verschlossen und selten zu Scherzen aufgelegt. Ein anregendes Gespräch gelingt nur mit dem Frühling wage ich zu spekulieren. Dem Sommer…

Stimme aus dem Off: „Lieber Autor, bitte wieder zurück zum eigentlichen Thema.“

Autor: „Na gut.“

Ich beneide ja die verflossenen Generationen, die sich in die Stille zurückziehen konnten. Die nicht das Geschepper der ganzen Welt ertragen mussten. Stattdessen mit ein paar Freunden am knisternden Kamin sitzen. Ein Glas Rotwein in der Hand. Dem Treiben der Blätter zusehen. Dieses wohltuende Chaos mit verträumten Blicken begleiten. Auch heute wäre das möglich, doch möglich wäre vieles. Genau genommen wäre heute viel mehr möglich. Im Herbst. Lasst uns für eine gute Woche ein verwunschenes Landhaus mieten. Eins ohne Internet. Ein Buch lesen oder daran scheitern eins zu schreiben. Mit Menschen die uns nah sind. Das wäre schön. Frühling und Sommer sind vorbei. Es ist Herbst. Ich denke nicht umsonst steckt auch das Wörtchen „herb“ in ihm. Mal kippt er schon in Richtung Winter, erstes Schneegestöber, dann wieder gen Sommer. Spendet ein allerletztes Mal angenehme Temperaturen beim Spaziergang durch den blätterbunten Park. Die Menschen erkennen ihre Chance, noch einmal wärmende Sonnenstrahlen anzublinzeln. Die Herbstäpfel wollen geerntet werden mit diesem eigenartigen Pflückgerät. Eine lange Holzstange an deren Ende ein zinnenbewährtes Stoffbeutelchen dem Baum unsanft die Früchte entreißt. Eine schöne Kindheitserinnerung. Der Herbst. Haben wir nicht auch Kastanien und Eicheln gesammelt und daraus Tierchen gebastelt? Jahrelang standen sie bei der Großmutter im Regal. Die selbstgezimmerten Drachen mit hauchdünnem Papier bespannt segelten über dem Hügel am Weiher. Auch eine melancholische Zeit der Herbst. Auf auf, schnapp Dir Deinen Drachen und lauf los, sage ich zu mir selbst. Lauf los und schau Dich nicht allzu oft um. (ts)