Dezember

Es ist Dezember. Die vorweihnachtliche Besinnlichkeitsroutine wird abgestaubt und neben den Schwippbogen ins mit silbernen Sternschnuppen geschmückte Fenster gestellt. Nikolaus verfolgt uns mit Unheil verkündendem Lächeln auf Plakaten der Saison. Und die Menschen? Sie schleppen kleine Nadelbäume durch die Gegend. Ein Bild das mich an Gemälde des großartigen Malers der Renaissance Horatius Hölderlin erinnert, der seinen Ruhm bettelarmen Leibeigenen des Mittelalters verdankt, die in graue Lumpen gewickelt Reisig in verschneiten Wäldern sammeln und von ihm auf Leinwand verewigt wurden. Heute tragen zwar alle teure Markenware, wenn auch von zweifelhafter Qualität und Herkunft, doch leider wieder nur in grau. Die Mülltonnen in den Höfen sind hingegen farbenfroh. Bürger favorisieren für sich selbst das Unscheinbare. Sie sind genauso lackiert wie ihre Autos. Bunte Sachen sind Kindergartenkindern vorbehalten. Ich fände es schön, wenn der Drang zur zurückhaltenden Mutlosigkeit mit dem Zuklappen der Spülmittelflaschendeckel oder dem Zudrehen von Zahnapastatuben befriedigt wäre. Außerdem wünsche ich einen Tag herbei, an dem nur Unerhörtes meine Ohren erreicht. Allzuoft ist es dieselbe Leier. Insbesondere in Talkshows. Warum rennen nicht alle schreiend davon, nachdem sie denselben Satz zum zehnten Mal gehört haben? Ich warte sehnlichst auf den Moment, an dem jemand aus dem Publikum in die Runde platzt und ruft: „Schluss damit! Ich kann es nicht mehr hören!“. Beim Englischunterricht neulich, ich übersetze simultan ins Deutsche, sollte folgende Situation bewertet werden. Einem Mitarbeiter war gekündigt worden, weil er als zu langweilig und über die Maßen kritisch galt. Ein Kursteilnehmer sagte: „Er hätte halt nicht so langweilig und kritisch sein dürfen, dann wäre er auch nicht entlassen worden.“. Die Antwort mag zwar der mangelnden Gewandtheit im Englischen geschuldet gewesen sein und wenn man jung ist, findet man diese Aussage auch nicht schlimm, doch ich sprang auf und rief dazwischen: „So haltet ein! Wenn diese beiden Charakterschattierungen ausreichen um gefeuert zu werden, müssten wir nicht die halbe Belegschaft rauswerfen? Nimmt man es genau, halb Deutschland oder mehr!“. Dies wurde allseits als Beleidung aufgefasst. Ich vermute, ich darf mich glücklich schätzen noch in Lohn und Brot zu stehen. Aber wäre der Verlust des Jobs überhaupt ein spürbarer Schlag ins Kontor? Ich könnte schließlich jederzeit eine Gepäckaufbewahrung eröffnen und kostenlosen Lebertran ausschenken. Lebertran – ein grausames Wort. Ich würde das Getränk „crëme iecur supérieur“ taufen. Fröhlich stünde ich gehüllt in rosa Uniform mit bunten Knöpfen am Schalter, ein Tablett mit besagtem Gebräu in Champagnergläsern neben mir. Die offizielle Gepäckaufbewahrermütze auf dem Kopf, führte ich Kurzgespräche absurden Inhalts mit der Stammkundschaft. Ausgeklügelte Sortiersysteme rattern im Hintergrund und sorgen für die reibungslose Annahme und Abgabe der Gepäckstücke. Eine Expressomaschine liefert zugleich starken Kaffee und bei Bedarf, angeforderte Koffer im Sauseschritt. Zusätzlich wäre eine kleine, schnucklige Ratgeberbücherei integriert. Ein cleverer Schachzug, denn Reisende die Gepäck aufgeben, haben Zeit. Die Ratgeber sind selbstredend sämtlich von mir höchstpersönlich verfasst. Einer möglicherweise über natürliche Intelligenz, eine in Vergessenheit geratene Geisteskraft, welche durch regelmäßiges, sogenanntes Nachdenken stimuliert werden kann. Er befindet sich noch in einem frühen Stadion. Ich liebe es die Begriffe Stadion und Stadium mutwillig zu vertauschen. Ein köstlicher Schabernack und natürlich auch eine fiese Falle, in die ich meinen erweiterten Bekanntenkreis gern tappen lasse. Korrekter Einsatz des Wortes „gern“ übrigens. Ich möchte die Bevölkerung bitten von der inflationären Verwendung dieser Vokabel Abstand zu nehmen. Ganz besonders am Satzanfang. Ein zweiter Ratgeber ist schon fast begonnen. Es geht darum Entscheidungshilfe für die Problemstellung zu bieten, wann laut und wann leise gesprochen werden sollte. Ich sehe hier steigenden Bedarf. (ts)