Text №154

Eine für den Löwenanteil der Weltbevölkerung völlig unwichtige Laufveranstaltung führte mich unlängst durch einen Berliner Stadtbezirk, in dem ich einen kompletten Lebensabschnitt verbracht habe. Wir schrieben das Jahr neunzehnhundertneunzig, ich war frisch verheiratet und wohnte mit Frau und Katze in Schöneberg. Sehr eigentümlich, dass mein Wandeln auf Erden so stark segmentiert ist. Zwischen den Abteilungen bestehen kaum Verbindungen. Nur sehr wenige Menschen haben mich durch mehrere Jahrzehnte begleitet. Die Kindheit auf dem Land, die Jugend in der Großstadt im Osten und dann war da die sogenannte Rote Insel im Berliner Westen mit Postleitzahl zweiundsechzig. Ich komme körperlich nur noch äußerst selten zurück in diese Vergangenheit, habe aber etliche Erinnerungen. Der kleine Musikalienhandel an der Brücke die sich über die S-Bahn spannt zum Beispiel. Der Besitzer, der in Personalunion auch die Tresenkraft stellte, wusste um meine Vorlieben. Seine Trefferquote lag bei summa summarum hundert Prozent. Ganz im Gegensatz zu neumodischen Onlineaudioramschverwertern. Er war sehr oft ein Überbringer guter Nachrichten. Der Gegenspieler von Hiob sozusagen. Freudig wurden mir Schallplatten entgegengestreckt, betrat ich einmal die Woche sein Revier. Es war allen klar, dass ich dieses Prunkstück der menschlichen Kreativität haben wollen würde. Stets lief ich schnurstracks mit dem Klanggut nach Hause. Kein Halt bei Bolle und auch keine Teepause beim türkischen Gemüsehändler. Eile war geboten! Rasch noch einen Kaffee gekocht und schon drehte sich die Scheibe auf dem Plattenteller. Eine Zigarette qualmte friedlich im Aschenbecher. Konzentriert studierte ich das Plattencover wie die Sonderausgabe einer Abendzeitung. Ein anderes Bild aus jener Epoche heißt Tennismatch mit gutem Bekannten. Es ist nicht käuflich zu erwerben. Der immer gut gelaunte Kontrahent und ich trafen sich auf dem Weg zum Centercourt für gewöhnlich im Großen Gelben. Wir sprachen damals beide noch mit triefendem Dialekt. Mir war das immer ein bisschen peinlich. Nicht aber so dem Freund. Er rief in breitem sächsisch quer durch den Bus meinen Namen um auf sich aufmerksam zu machen. Ich lächelte dann immer ein bisschen gequält, die Hand zum Gruß erhoben und denkend, ist ja gut, ich habe Dich gesehen. Komisch, dass gerade sowas hängen bleibt. Der Stadtteil brachte mich außerdem mit einem Nachtleben in Berührung, das diesen Namen sogar verdient. Im Arbeiter- und Bauernstaat traf man sich zu Hause. Ausgehmöglichkeiten waren, so wie eigentlich alles, knapp. Allzuoft saß ich also mit Bierflasche in der Hand auf den Sofas von Leidensgenossen und wartete darauf, dass mein Leben endlich beginnt. Nicht so in Westberlin! Unvergessen eine durchtanzte Nacht, nach der ich mit einer Freundin bei ihr noch einen Absacker trank und versuchte, sie zu küssen. Die Reaktion „Ich bin doch nicht Dein Kuschelkissen!“ halte ich nach wie vor für ganz exquisites Annäherungsmanagement. Glücklicherweise nahm mir die Frau die sicherlich etwas überraschende Aktion nicht übel. Wie man sieht, kann ich, was den Umgang mit Menschen betrifft, keine weiße Weste vorweisen. Das Spaghettimonster wird diese Erkenntnis betreffend wenig schockiert sein. Schockiert sein wird es eher über die unglaublich vielen Barbesuche die dereinst absolviert wurden. Die Standardfrage der Keeper lautete: „Wie immer?“. Durch meine Ambition Altersklassendistriktmeister auf der Langstrecke zu werden, nehme ich kaum noch geistige Getränke zu mir. Die Cocktaildichte in meinem damaligen Alltag hätte ich bis ins Jetzt auch sicher nicht durchgehalten. Beendet wurde diese Lebensjahreszeit durch eine energische Dame, die mich nach Prenzlauer Berg verschob. Mit der Zeit verblasste der alte Kiez. Ein lebendiges Umfeld verwandelte sich in ein nebulöses Damals. Das italienische Restaurant in dem ich mit Namen begrüßt wurde, der verrauchte Billardsalon. All die kleinen Dinge wurden verschlungen von der gnadenlosen Hirnfunktion namens Vergessen. (ts)