zwischen zehn und sechs

Es war einmal im verträumten Westberlin Anfang der Neunziger. Ich hatte jüngst meine Ausbildung zum Zugabfertiger abgeschlossen und reiste, ja, auch eine sehr kurze Anfahrt darf so genannt werden, zum Bahnhof Wilmersdorfer Straße, um meinen ersten Nachtdienst anzutreten. An die Jahreszeit erinnere ich mich nicht mehr so genau, vielleicht war es Herbst, denn ich trug obenrum nur meine dunkelblaue Dienstjacke. Die mit den großen Taschen an der Seite. Alles passte da hinein. Schlüsselbund, Trillerpfeife, Zigaretten und Feuerzeug. Der Wintermantel hing noch im Kleiderschrank und sehnte die Polarwinde herbei. Sie würden ihm indirekt die Befreiung aus monatelanger Gefangenschaft gestatten. Überpünktlich betrat ich gegen halb zehn den Dienstraum. Holzgetäfelt die Wände, das Interieur mit dem Charme der Siebziger. Ein freundliches Nicken des diensthabenden Kollegen quittierte meine Ankunft, während er noch schnell mit einem kühlen „Zurückbleiben!“ den Achter – ein Zug mit acht Wagen – Richtung Spandau in den Tunnel schickte. Auf dem Schreibtisch lag schon das geöffnete Anwesenheitsbuch, in das ich mich gleich eintragen würde nachdem die Austragung des aktuellen Bahnhofsvorstandes erfolgt war. Feierabend für den Spätdienst. Eh ich mich versah, waren Hände geschüttelt, Grußformeln ausgetauscht und Wünsche die eine möglichst störungsfreie Schicht thematisierten übermittelt. Ein merkwürdiges Gefühl, der einzige Würdenträger einer ganzen Station zu sein. Offenbar hielt es die BVG für richtig, orientierungslosen jungen Erwachsenen die Verantwortung für ein kleines Reich zu übertragen. Mein Fürstentum erhielt um diese Stunde nur wenig Besuch, dort ein Pärchen auf dem Heimweg, hier ein Betrunkener, der es sich auf einer der Bänke gemütlich macht und mit imaginären Personen in lauten Streit gerät. Nachher würde ich ihn verscheuchen müssen. Zwischen dem Abfertigen der Züge saß ich am Schreibtisch und studierte die, von den Kollegen zurückgelassenen, Revolverblätter. Mir erschloss sich nicht ganz, welchem Impuls man erliegen musste um den Kaufvorgang für diese Produkte einzuleiten. Ich rauchte viel zu viel und trank Kaffee schwarz aus der Mitropa Kaffeemaschine, die sich in jedem Zugabfertigerhäuschen fand. Schon näherte sich der Zeitpunkt des Betriebsschlusses. Die beiden letzten Züge des Tages hatten mein Hoheitsgebiet passiert. Erst der nach Rudow, ich sprach schon damals aus humoristischen Gründen auch das „w“ mit und zuguterletzt Spandau. „Zu rück blei ben“ nuschelte ich ins Mikrofon. Ein festinstallierter Schalter musste nun betätigt werden, was ein blinkendes Licht am Ausfahrtssignal auslöste und dem Fahrer erlaubte die Türen zu schließen und loszufahren. Es folgte Stille. Die finale Amtshandlung galt den Zugangstoren. Sie mussten für die Dauer der Nacht verriegelt werden, also schnappte ich mir Schlüssel und Funkgerät und machte mich auf den Weg. Natürlich stieß man dabei auf enttäuschte Menschen, die die letzte Bahn verpasst hatten. Ich verabschiedete sie herzlos mit dem Satz: „Der nächste Zug fährt vier Uhr einundvierzig!“ in die Dunkelheit. Nun nur noch die Bahnhofsbeleuchtung ausschalten. Nichts für schreckhafte Wesen. Ein menschenleerer, im Notlicht liegender Bahnsteig, eine flackernde Neonröhre, mitunter fanden Stimmen aus der Oberwelt auf wundersame Weise ihren Weg in den Untergrund. Mich störte die Einsamkeit und Ruhe wenig. Ich empfand es als wohltuenden Gegensatz zur deprimierenden Geschäftigkeit des Tages. Meine Aufgabe für die nächsten drei Stunden bis zum Betriebsbeginn bestand darin nicht einzuschlafen, also schlenderte ich ein paarmal qualmend durch die Katakomben und schmökerte wiederholt in den Klatschzeitungen während ich nachtmahlte. Bei der nächsten Nachtschicht würde ich mich mit annehmbarem Schriftgut bewaffnen schwor ich mir. Die Zeit verging quälend langsam, im Fünfminutentakt schaute ich auf die Uhr. Damals trug jeder eine Armbanduhr. In meinem Besitz fanden sich gleich mehrere. Steckt man allein in düsterer Nacht unter Tage eingepfercht zwischen leeren Gleisen, glaubt man, das endet nie, doch ich kann aus erster Hand berichten, der Glaube trügt. Irgendwann verlangten die Zeiger der Zeitmessaparatur das Öffnen der Tore. Ein charakteristischer U-Bahn-Wind gab Kunde von der bevorstehenden Einfahrt des ersten Zuges. Schon bald danach ein erlösender Moment als die Frühschicht durch die Tür tritt. Noch schnell die Formalitäten durchgehastet, dann ein kühner Sprung vom Bahnsteig ins bereitstehende Schienenfahrzeug der Großstädter, gefolgt vom wohlverdienten Fall ins kuschelige Bett. (ts)